Es ist vielleicht eine Stunde vergangen, als im Rang des Deutschen Theaters ein älterer Herr aufsteht und das alles nicht mehr mitmachen will. „Ich dachte, hier wird heute Shakespeare gespielt!“, ruft er aus. Er schimpft sich in Rage, während er dem Ausgang zusteuert, die Wörter „langweilig“ und „untalentiert“ sind zu hören. Im Publikum wird es unruhig, nicht aber auf der Bühne, wo Peter René Lüdicke gerade am Bett des hinfälligen Königs Lear (Michael Gerber) sitzt und geduldig den Ausbruch abwartet. Als der Zuschauer den Saal verlassen hat, betreten zwei Schauspieler die schneeweiße Bühne, kostümiert als schwarzes Pferd, in dessen Schritt eine riesige Penisattrappe baumelt. „Die haben an alles gedacht“, murmelt eine ältere Dame im Parkett.
Es stimmt ja: Wer sich an diesem Abend noch einmal die Geschichte des Herrschers erzählen lassen wollte, der unter seinen Töchtern sein Erbe falsch aufteilt und darüber in Unglück und Wahnsinn stürzt, der hätte besser zum Originaltext gegriffen oder sich Grigori Kosinzews Verfilmung von 1971 besorgt. Regisseur Sebastian Hartmann ist allerdings, das hätte man dann doch wissen können, auch bekannt dafür, dass er Textvorlagen nie getreulich vom Blatt abspielt, sondern sie in Splitter und Samplings übersetzt, Motive herausgreift und neben Motive aus anderen Texten stellt, Stimmungen auf Nonsens und Nonsens auf Ideenblitze folgen lässt. „Unsere Konventionen, wie man sich Geschichten erzählt“, lässt Hartmann im Programmheft wissen, „haben uns dahin gebracht, wo wir im Moment stehen: an den Rand der Klimakatastrophe, vor die Implosion von Wertesystemen, die in diesen Geschichten gleichzeitig tradiert worden sind.“ Es geht ihm nicht darum, ein gemütliches Lagerfeuer zu entfachen, an dem wir uns gemeinsam unserer selbst versichern. Es geht ihm um die Themen und Katastrophen der Gegenwart.
Alte Männer im Krankenbett
Auf der Bühne steht eine große, hölzerne Windradkonstruktion, Trockeneisnebel wabert in den Zuschauerraum. König Lear und sein Spiegelbild Graf Gloucester (Markwart Müller-Elmau) liegen in Krankenhausbetten und werden im Lauf des Abends kaum ein Wort sagen, höchstens einmal jäh aufstöhnen oder Unverständliches schimpfen. Es ist Linda Pöppel, die in Personalunion den Konflikt zwischen Lear und seiner Tochter Cordelia ausbreitet, der zur Verbannung des Kindes führt. So beginnt der Reigen aus losen, zum Teil unverbundenen, oft gleichzeitigen Szenen, die Samuel Wiese im Bühnenhintergrund immer mal wieder mit lässigen Synthesizerklängen unterlegt.
In vielen Variationen wird schnell klar, worum dieser Abend kreist: Er ist eine laute Anklage der jüngeren Generation, die fassungslos am Sterbebett der älteren steht. Fassungslos wegen der Vergangenheit: Wir hören Sylvia Plaths nachgelassenes Hassliebegedicht „Daddy“ über ihren deutschstämmigen Vater, den „Panzer-Mann“ vor dem „Hakenkreuz so schwarz, dass kein Himmel hindurchbricht.“ Und fassungslos wegen Gegenwart und Zukunft: „Die absolute Regel des Denkens ist es, die Welt so zurückzugeben, wie wir sie bekommen haben – unbegreiflich – und wenn möglich noch etwas unbegreiflicher“, grüßt Jean Baudrillard. In Hartmanns vieldeutigem Textgewebe hat neben Shakespeare selbst der zwielichtige Muammar al-Gaddafi seinen Platz: mit seinem Wutausbruch von 2009 vor der UN-Vollversammlung. Auch er klagt an, das kolonisierende, gleichsam väterliche Europa: „Afrika hat Anspruch auf 777 Milliarden Dollar als Kompensation der kolonisierenden Länder“, rief er aus. Später zerriss er die UN-Charta.
Stagnation auf der Textbaustelle
Das alles verliert aber nach einer Stunde deutlich an Energie - da mag sich Manuel Harder auch nackt ausziehen, in Wutkrämpfe steigern oder mit Elias Arens Schwertgefechte liefern. Es dämmert eine große Ratlosigkeit auf dieser Bühnenbaustelle herauf, an deren Wände immerzu verwaschene Bilder von Waldbränden, einstürzenden Gebäuden oder Windrädern projiziert werden. Vielleicht braucht es diesen Moment, um das großartige, umwerfende Finale dieses Abends umso heller erstrahlen zu lassen.
Neonröhren auf der Rückseite des Windrades verstrahlen gelbes Licht, als sich Cordelia Wege im schwarzen Paillettenkleid an den Bühnenrand setzt. Sie spricht Wolfram Lotz’ Text „Die Politiker“ so, wie man ihn sprechen muss: In atemlosem Tempo. „Die Politiker“: Das ist ein Gedicht, 99 Seiten lang, es feiert hier seine Uraufführung. Es ist ein eiskalter Platzregen, eine Überwältigung aus Sprache, strukturiert durch die Wiederholung „Die Politiker Die Politiker Die Politiker“, ohne Verlangsamung durch Kommas, schnell, lustig, traurig, sinnlos, blitzgescheit, alles zugleich. „Beyoncé“ wird auf „tut weh“ gereimt, „Aprikose“ auf „Hose“, der Text schrammt ohne Angst vor Kalauern immer dicht am Wahnsinn entlang. Cordelia Wege feuert dieses wunderbare Kunstwerk in einer geschätzten halben Stunde in den Zuschauerraum und wird von heftigem Zwischenapplaus unterbrochen. Es ist so umwerfend, so gegenwärtig, so hellwach, dass man sich erinnert, warum man ins Theater geht: Nur hier gibt es so aufregende Erlebnisse wie dieses.
Deutsches Theater, Schumannstr. 13a, Mitte. Nächste Vorführung: 8. September, 19 Uhr.