Jahrelang, ja vielleicht sogar das ganze Leben war er weg. Plötzlich aber steht er wieder vor der Tür, der Vater, der seinen Nachwuchs einst verließ und nach all der verstrichenen Zeit wiedersehen will. Mit der intensiven Gefühlsmischung, die eine solche Begegnung mit sich bringt, ist sie ein unerschöpfliches Repertoire für das Kino, das sich entsprechend in unzähligen Vater-Sohn-Dramen daran abgearbeitet hat.
Auch in David Nawraths „Atlas“ wäre eigentlich genau solch eine Geschichte angelegt. Doch der Film spielt sein Vater-Sohn-Drama nicht in direkter Konfrontation aus – und ist in seinem schweren Herzen trotzdem genau das. Der Vater, um den es geht, heißt Walter (Rainer Bock).
Zwangsräumung beim eigenen Sohn
Er ist ein Möbelpacker, ehemaliger Gewichtheber und ein stiller Mann, der allein lebt und eben auch irgendwann vor der Tür seines Sohnes steht, den er als Vierjährigen zuletzt gesehen hat. Allerdings weiß er das zu dem Zeitpunkt im Hausflur noch gar nicht, denn eigentlich ist er aus anderen Gründen da.
Mit einem Männertrupp führt er für seinen Chef Roland Zwangsräumungen von Altbauwohnungen durch, die gewinnbringend weiterverkauft und deren Bewohner gegebenenfalls auch mit Drohungen und Gewalt vertrieben werden. Der Familienvater, in dem er seinen Sohn Jan (Albrecht Schuch) wiedererkennt, wehrt sich allerdings gegen die Räumung.
Nach der ersten Begegnung sucht Walter zwar seine Nähe, behält die Wahrheit aber für sich. Als Jan und seine Familie nach einer Auseinandersetzung mit einem der Möbelpacker in Gefahr sind, schützt er sie ohne deren Wissen.
Pointiert genug und ohne plakativ zu werden greift
Lauter Reizthemen der Gegenwart
Regisseur Nawrath dabei akute Probleme der Gegenwart auf. Clan-Kriminalität thematisiert er genauso wie die Entmietung in Großstädten und den Widerstand dagegen und beschreibt ebenso beiläufig, aber genau die einfache Lebenswirklichkeit, durch die sich Walter bewegt.
Dass „Atlas“ in Frankfurt am Main spielt, ist dabei kaum zu erkennen. Fernab der glänzenden Stahl-Glas-Oberflächen der Wirtschaftsmetropole strahlt hier unter dem dauerhaft verhangenen Himmel eher alles eine Wintertrostlosigkeit aus.
Auch die Bilder sind bis Sekunden vor Schluss von einem Grauschleier überzogen. Das trägt zur Schwermütigkeit bei, die die ruhig soghafte Atmosphäre des Films bestimmt und die auch Walter in sich trägt.
„Jeder Mensch ist für sich selbst verantwortlich, jeder lädt sich seine Last auf und muss sie dann selber tragen“, sagt er einmal einem Kollegen. Wie der titelgebende Titan Atlas aus der griechischen Mythologie, der die Welt geschultert hat, trägt Walter hier stoisch und in sich gekehrt die Last seines Lebens.
Großes Spiel und stille Kraft
Von Anfang an ahnt man, dass etwas auf ihm lastet, und weiß bald auch, welche Fehler und Versäumnisse der Vergangenheit das sind. Verkörpert wird Walter von Rainer Bock, dessen Gesicht man schon in einer Vielzahl von TV- und Kinorollen und in internationalen Produktionen wie Quentin Tarantinos „Inglourious Basterds“ gesehen hat. Meist braucht es nur seine körperliche Präsenz und seine Blicke, um eine stille Kraft zu entwickeln, die auch das Charakterdrama dieses eindrücklichen Erstlings über weite Strecken auszeichnet.
Drama D 2019 100 min., von David Nawrath, mit Rainer Bock, Albrecht Abraham Schuch, Thorsten Merten