Berlin. Das arabische Rotkäppchen heißt Layla und lässt sich vom bösen Wolf nicht fressen. Es zückt rechtzeitig das Mobiltelefon und wird von der Polizei vor dem Kinderschänder gerettet. Cinderella (arabisch „Sindirilla“) pult in der arabischen Version nicht Erbsen aus Asche, sondern muss auf Befehl der hartherzigen Stiefmutter – gewiss nicht weniger mühsam – Fische von Schuppen befreien. Das Symbol des goldenen Schuhs, der passen muss, um sozial aufsteigen zu können, und das Happy End mit dem Prinzen aber gleichen sich in deutschen und arabischen Versionen des beliebten Kindermärchens.
Das Ägyptische Museum der Staatlichen Museen zu Berlin hat in Zusammenarbeit mit der Arab-German Young Academy of Sciences and Humanities (AGYA) auf einer Sonderausstellungsfläche des Neuen Museums rund 100 Objekte aus den reichhaltigen Beständen der Papyrussammlung mit Leihgaben zusammengeführt. „Cinderella, Sindbad Sinuhe. Arabisch-deutsche Erzähltraditionen“ möchte laut Ankündigung „wechselseitige Einflüsse und gemeinsame Ideen arabischer und deutscher Erzähltraditionen“ erkunden. Gleichzeitig werden Märchen und Legenden als transnationales, polyglottes Phänomen erfahrbar.
Märchenfragmente finden sich auf Tontafeln
Eine Art Prolog verweist eingangs auf Erzähltraditionen, die älter sind als arabische und deutsche Überlieferungen. Die ältesten schriftlich überlieferten Erzählungen sind mehr als 4000 Jahre alt. Dazu gehören neben dem babylonischen Gilgamesch-Epos der altägyptische Papyrus Westcar. In ihm finden sich die frühesten schriftlichen Erwähnungen von Zauberern. Die Ausstellung enthält Märchenfragmente auf altägyptischen Tontafeln aus Schülerhand ebenso wie Aufzeichnungen versierter Schreiber mit schwarzer und roter Tinte. Die mündlichen Überlieferungen aber reichen freilich noch sehr viel weiter zurück.
Als typisch arabisch gelten vielfach die Märchen aus „1001 Nacht“. Sie fußen allerdings auf indischen und persischen Vorläufern. Lange vor arabischen Übersetzungen wurden Geschichten mächtiger Zauberwesen und Dschinnis in Karawansereien Persiens erzählt. Die Kanonisierung der orientalischen Märchen aus „1001 Nacht“ schließlich erfolgte weder im arabischen Raum noch in Deutschland, sondern Anfang des 18. Jahrhunderts durch einen französischen Geschichtensammler und Gelehrten, Antoine Galland.
Auch Goethe führte arabische Schreibübungen durch
Galland fügte seiner 12-bändigen Sammlung orientalischer Märchen die Geschichte von Sindbad, dem Seefahrer, ein. Dieses Märchen war nicht Teil der persischen und arabischen Sammlungen von „1001 Nacht“. In der Rahmenhandlung von Scheherazade, die erzählt, damit König Schahryâr sie nicht „tötet“, ist erkennbar erotische Motivik kindgerecht verschoben worden, interessanterweise mit einem überaus brutalen Bild.
Die Beeinflussungsgeschichte wird in der Ausstellung – wenig überraschend – am Beispiel von Johann Wolfgang von Goethe festgemacht. Sein „West-östlicher Divan“, erschienen 1819 und erweitert 1827, ist vom persischen Dichter Hafis, Al-Mutanabbi und auch von Märchen aus „1001 Nacht“ inspiriert. Ein Blatt aus dem Goethe- und Schiller-Archiv Weimar belegt, dass Goethe selbst arabische Schreibübungen durchführte – mehr schlecht als recht. „Nicht alles lässt sich entziffern. Auch Goethe hat nicht immer ganz sauber geschrieben“, sagt die Kuratorin Verena M. Lepper.
Märchensammlungen trugen zur nationalen Identitätsbildung bei wie uns Grimms „Kinder- und Hausmärchen“, gleichzeitig entziehen sie sich lokalen Vereinnahmungen. Deswegen ist der Ausstellungstitel „Arabisch-deutsche Erzähltraditionen“ etwas irreführend. Märchen-Motive migrieren global, werden transformiert, verschoben oder assimiliert. Märchen sind Ausdruck verschlungener kultureller Geschichte(n), aber auch von Asymmetrien. Das gilt gerade auch für Motive und Geschichten aus dem sogenannten „Orient“.
Märchen unterliegen postkolonialen Klischees
Unter den Chiffren „Postkolonialismus“ und „Orientalismus“ wird seit Jahrzehnten die Stereotypen-Verhaftung aufgearbeitet, wie sie sich in Klischees beispielsweise von hypererotischen Harems-Damen oder heißblütigen orientalischen Kriegern manifestiert, bei denen das Krummschwert locker sitzt. Solche Bilder wirken bis hinein in die Beurteilung von Phänomenen wie dem islamistischen Terrorismus.
In der Märchenausstellung des Ägyptischen Museums wird ein grundsätzliches Dilemma deutlich, das auch das Humboldt-Forum beschäftigen wird. Wie lassen sich zeitgemäße Ausstellungen zu transkulturellen Fragestellungen kuratieren, bei denen ein interkultureller Austausch „auf Augenhöhe“ erfolgen soll, und gleichzeitig Asymmetrien kultureller Begegnungen bearbeiten? Und wie lässt sich verhindern, dass aus Sorge, das Publikum zu überfordern, letztendlich stereotype Bilder bestätigt werden?
Museumsinsel Berlin, Neues Museum, Bodestr., Mitte. Mo., Di., Mi., Fr. 10–18 Uhr, Do. 10–20 Uhr, Sa. und So. 10–18 Uhr. Bis zum 18. August