Das Phänomen kommt aus Japan und heißt Hikikomori: wenn Menschen sich freilich in ihrem Zimmer einschließen und den Kontakt zur Gesellschaft auf ein Minimum reduzieren. Es gibt aber auch erste Fälle in Europa. Und es gibt auch schon ein deutsches Filmdrama darüber, „1000 Arten, Regen zu beschreiben“, wo eine Familie damit umgehen muss, dass der älteste Sohn sich zurückzieht. Und die ganze Familie daran zu zerbrechen droht.
In „Goliath96“ verknappt der Hamburger Regisseur Marcus Richardt ein solches Drama auf ein Zweipersonen-Kammerspiel. Und lotet die Folgen der Konfliktunfähigkeit zweier Männer aus: von Vater und Sohn Dibelius. Der eine verschwand vor Jahren spurlos, ließ seine Familie ohne ein Wort der Erklärung zurück, mitten im Urlaub.
Der andere, David (Nils Rovira-Munoz), hat sich seit zwei Jahren in seinem Zimmer eingeschlossen, hängt vor dem Computer ab und stiehlt sich nur nachts für seine Tiefkühlpizza-Diät in die Küche
Erst mauert sich der Sohn ein, dann auch die Mutter
Mit seiner Mutter Kristin (Katja Riemann) spricht er kein Wort. Die alleinerziehende Bankkauffrau kann noch so lange vor seiner Tür kauern, betteln, schimpfen, weinen. David mauert, macht nicht den kleinsten Schritt auf sie zu. Sein Schweigen hallt geradezu ohrenbetäubend in der bürgerlichen Einfamilienhaushälfte wieder, in die sich Kristin bald ebenfalls zurückzieht, wie in einen selbstgewählten Sarg.
Sie kündigt ihren Job, blockt alle Kontaktversuche ihrer besorgten Freundin und Arbeitskollegin Monika (Jasmin Tabatabai) ab. In einem Internetforum für Drachenbauer gelingt es ihr schließlich, mit ihrem ahnungslosen Sohn eine neue Beziehung aufzubauen.
Unter den Decknamen Cinderella97 und Goliath96 chatten die beiden miteinander, zunächst nur fachsimpelnd und eher zögerlich. Nach einer Weile entwickelt sich eine Nähe zwischen ihnen, die Davids Panzer aufbricht, aber gleichzeitig Kristin in eine Grauzone der Grenzüberschreitungen verstrickt, irgendwo zwischen Therapie und ödipaler Nötigung.
Überzeugendes, starkes Regiedebüt
Immer wieder strapaziert dieses Spielfilmdebüt die Bereitschaft des Publikums, mitunter absurd wirkenden Szenen Glauben zu schenken, etwa wenn sich David bei einem Videochat seines T-Shirts entledigt und seine sich unter einer Tiermaske verbergenden Mutter auffordert, es ihm nach zu tun. Doch zugleich entwickelt sich ein schwer widerstehlicher Sog, mit einer Bild- und Tongestaltung, die karge Räume in den Rang eigenständiger Antagonisten erhebt und noch imstande ist, das Tropfen eines Wasserhahns mit sexueller Spannung aufzuladen.
Zuallererst hat man es hier aber mit einer beeindruckenden Solo-Performance von Katja Riemann zu tun. Sie biedert sich nie beim Zuschauer an, sondern zieht ihn mit flirrender Intensität auf die Seite einer Frau, die mit dem Mut der Verzweiflung und voller Angst vor dem Scheitern einen Drahtseilakt wagt, um nicht zum wiederholten Mal von einem ihrer Liebsten verlassen zu werden.
Dass selbst in den gelegentlichen Rückblenden, in denen sich Kristin an die unbeschwerte Zeit mit ihrem Sohn erinnert, jeder Anflug einer psychologischen Erzählweise unterbunden wird, mag etwas unbefriedigt zurücklassen, es öffnet aber Tür und Tor für die angestammten Wirkungsmechanismen des Kinos, die im gegenwärtigen deutschen Film nur selten ähnlich überzeugend zum Zuge kommen.
Drama D 2019 109 min., von Marcus Richardt, mit Katja Riemann, Nils Rovira-Muñoz, Elisa Schlott