Berlin. Der Morgen beginnt mit Nieselregen, dann kommt die Sonne heraus. Gute Aussichten für den Spaziergang, hatten wir gedacht. Aber als wir uns treffen, klatschen schon wieder die Wassertropfen. Vom Gendarmenmarkt wirbeln frühlingsgrüne Blätter, ein Sturm reißt an den Tischdecken der Restaurants, als wollten die Elemente unser heutiges Thema illustrieren: der Mensch und sein Lebensraum. Wir fliehen nach drinnen.
Vladimir Jurowski spricht über Musik und Natur. Der 46-Jährige ist Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin (RSB), das in der kommenden Spielzeit die Natur zum Thema haben wird. Auf dem Programm stehen Werke wie Mahlers „Lied von der Erde“, Strauss‘ „Alpensinfonie“ oder Haydns „Jahreszeiten“. Außerdem sind Spaziergänge mit Vogelstimmen geplant, Parkführungen oder Meditationen zur Erkundung der „inneren Räume“. Partner der Spielzeit sind Nabu, WWF oder auch das Museum für Naturkunde.
Das Thema solle einmal andere Menschen für klassische Konzerte interessieren, sagt Jurowski, als die heute typischen Konzertgänger wie Abonnenten oder Musikstudenten. Ein von Musikern live gespieltes Konzert sei ein ganz anderes Erlebnis. Erfahrbar mit allen Sinnen, wie die Natur eben auch. „Und wir wollen vermitteln, dass Musik zum Leben genauso unabdingbar dazugehört wie die Luft zum Atmen.“ Weil die Natur bedroht ist, sollen die Konzerte auch darauf aufmerksam machen.
Draußen prasselt unermüdlich der Regen. Unseren Spaziergang zu verschieben, kommt nicht infrage. Dass Jurowski überhaupt Zeit hat, ist ein Glücksfall. Er ist international begehrt, hat neben dem RSB Engagements in London, Moskau, New York, Amsterdam, Salzburg oder München, wo er ab 2021 gemeinsam mit Serge Dorny die Bayerische Staatsoper übernehmen wird. Ein Ritterschlag, das Münchner Haus gilt weltweit als das wichtigste deutsche Opernhaus. Auch wenn man das in Berlin nicht gern hört. Jurowski wiederum gilt als Nachwuchstalent. Sein Ruf: Er mache die radikalsten Klassikprogramme. Sein Auftreten ist bescheiden, eloquent und bereit, die eigene Musikbegeisterung mit jedem zu teilen. Mit Weltklassemusikern wie mit Laien.
Es ist eine besondere Phase, in der wir ihn treffen
An diesem Tag aber will er über seine Arbeit am liebsten nicht reden. Oder anders: Er kann es nicht. Er sei gedanklich gerade „in einer Art Niemandsland“, sagt er entschuldigend. „Ich habe eine große Periode Arbeit abgeschlossen, die nächste beginnt kommende Woche. Jetzt versuche ich gerade, nicht daran zu denken.“ Er brauche das, um sich innerlich leer zu machen für die nächste Aufgabe. An der Pariser Oper wird er mit Regisseur Ivo van Hove „Boris Godunow“ von Mussorgsky neu einstudieren, danach in Zürich mit seinem Freund Barrie Kosky, dem langjährigen Intendanten der Komischen Oper, „Die Gezeichneten“ von Frank Schreker auf die Bühne bringen. Wer Jurowski in Berlin erleben möchte, hat dafür bis zum Herbst nur eine Gelegenheit: am 21. Juni in der Philharmonie, mit dem RSB (Mozart und Zemlinsky). Am 26. August macht er mit dem RSB zudem einen Abstecher zum Musiksommer ins Kloster Chorin.
Zu Hause in Berlin ist er maximal zwei Monate im Jahr, sagt er. Hier lebt seine Familie, seine Frau und zwei Kinder, die Eltern und seine Schwester. Sein Vater, Michail Jurowski, reist als Dirigent so viel wie der Sohn.
Inzwischen beginnen die Tropfen an den Fenstern zu blinken. Die Sonne? Wir beschließen, der Natur eine zweite Chance zu geben. Er gehe sehr gern spazieren, sagt Jurowski, als wir die Treppen nach unten laufen. Seine Familie lebt in Dahlem. Die Tochter (22) studiert an der FU, sein Sohn (9) besucht die Rudolf-Steiner-Schule – alles in der Nähe. Jurowski kann sich für das ganzheitliche Konzept der Steiner-Schulen begeistern, die auch die Tochter früher besucht hat. „Weil es immer um den kompletten Menschen geht, nicht nur ums Intellektuelle, sondern die gesamte Bildung, auch um Motorik, Intuition, Gefühle.“ Es ist auch sein Lebensprinzip.
Für Familienspaziergänge gibt es den Thielpark oder an Wochenenden auch mal den Schlosspark Sanssouci. „Im Spätsommer und im Herbst gehen wir oft Pilze sammeln. Ich mache das leidenschaftlich gern, es ist eine Kindheitserinnerung.“ Jurowski lächelt. Pilze sammeln sei wahrscheinlich etwas sehr Osteuropäisches. Auch wenn es ihm nicht in erster Linie darum gehe, sie zu essen. „Wie Pilze in der Natur wachsen, ist etwas Einmaliges. Und einen guten Pilz zu entdecken, ist eine Urfreude für mich.“
Auf der Straße unterbricht uns das Gebrüll des Verkehrs. Erst als wir schon über den Gendarmenmarkt hinaus sind, fällt mir ein, dass wir den Regenschirm im Büro vergessen haben. Jurowski deutet Richtung Hausvogteiplatz. „Dies ist mein ehemaliges Habitat, meine Zone“, sagt er, ganz Naturmensch.
Er war 18, als die Familie nach Deutschland kam. Ihm fiel es schwer, Freunde und Heimat zurückzulassen. Doch seine Eltern waren fest entschlossen, erzählt er. „Mein Vater sah für sich keinen Platz mehr im damaligen russischen Kulturleben, zumal als Jude, denn die damalige Obrigkeit betrieb eine ziemlich eindeutig antisemitische Politik. Dazu kam der Zerfall des Landes, man hatte Angst, dass es einen Militärputsch geben würde.“ Außerdem hatten die Eltern schlicht Angst um ihre drei Kinder. Vor allem um Vladimir, den Ältesten. Er sollte zum Militär, drei Jahre auf ein U-Boot. Ohne Musik, ohne Luft zum Atmen, zumindest gefühlt. Ohne Aussicht, das Militär als heiler Mensch zu überleben.
In den ersten zwei Jahren in Deutschland studierte Jurowski Musik in Dresden, im Sommer 1992 kam er nach Berlin, um an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ beim Dirigenten Rolf Reuter zu lernen. Schon 1996 dirigierte er erstmals am königlichen Opernhaus in London. Von 2001 bis 2013 pendelte er zwischen Berlin und dort, er war Musikdirektor der Glyndebourne Festival Opera.
Wir vorbei an dem Haus, in dem die Familie in den ersten Berliner Jahren lebte. „Im neunten Stock“, er deutet nach oben. Die Fischerinsel, das Nikolaiviertel war zu DDR-Zeiten auch eine Insel der Künstler und Intellektuellen. Wo fühlt sich jemand wie er zu Hause? Was ist Heimat? Er überlegt. Die Heimat bleibe nach wie vor Moskau, „auch wenn ich mich mit dem heutigen Russland nicht mehr so richtig identifizieren kann.“ Als er dorthin zurückkehrte, um zu dirigieren, sagt er, habe er einiges von seiner Heimat wiedergefunden. „Aber Berlin ist eindeutig der Ort, wo ich mich im wortwörtlichen Sinne zu Hause fühle.“ Vor allem wegen der Familie, aber nicht nur.
Am Kupfergraben dröhnen Baumaschinen, mir tut das leid. Jurowski hat zuvor gesagt, dass er zwar einerseits Lärm gut ertragen könne: „Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Musiker den Stress, der durch große Lautstärke entsteht, schneller abbauen können.“ Dass aber andererseits Maschinenlärm für ihn unerträglich sei. Der Unterschied sei nicht der Lärmpegel, sondern die fehlende Harmonie. Selbst ein ohrenbetäubender Wasserfall habe eine natürliche Harmonie, Maschinenlärm nicht.
Jurowski spricht tapfer gegen das Gedröhne an. Ich habe gefragt, wie er die Diskussion um den Antisemitismus in Deutschland sieht, den Skandal um die Verleihung des Echo, Angriffe auf Menschen mit Kippa. Ja, natürlich sei dies ein wichtiges Thema. Über den Echo habe er auch mit seinem Sohn gesprochen, ihm geraten, auch bei Unterhaltungsmusik wie Rap über die Texte nachzudenken. Er selbst hat als Student in Dresden die dortige Neonazi-Szene erlebt, „später sah ich, dass es ähnliche Bewegungen auch in anderen Ländern gibt, in Frankreich und auch Russland.“
„Berlin verändert die Menschen“
Er bleibt bei dem Thema gelassen. Fremdenangst, sagt er, stecke grundsätzlich in jedem Menschen. „Wichtig ist, dass wir uns das bewusst machen, es akzeptieren – und es dann durch Erziehung und Bildung versuchen zu überwinden.“ Er persönlich habe in Deutschland nie Ablehnung gespürt. Im Gegenteil. „Berlin ist nach wie vor eine der offensten Weltstädte überhaupt.“ Wie selbstverständlich nehme die Stadt die Menschen auf. „Berlin verändert die Menschen, aber die Stadt zwingt niemanden dazu.“ Wir passieren das ehemalige DDR-Staatsratsgebäude, die Bauakademie, die Schlossbaustelle. Berlin habe ein „zentraleuropäisches Flair“, schwärmt er.
Auf der Französischen Straße lässt der Lärm endlich nach. Wir sprechen von der Kunst, ganz im Moment zu sein. Von Yoga, das er oft morgens praktiziert und das für ihn nicht einfach nur physische Übungen bedeutet, „sondern ein Zustand, eine Einheit von innen und außen, Körper und Seele.“ Überhaupt ist das bewusste Erleben des Moments in der Musik für ihn ein wichtiges Thema. „Das kann man lernen.“
Hat er Lampenfieber? Eher selten als Dirigent, sagt er, „sondern eher, wenn ich als Pianist einen Sänger begleite, was ich heute nur noch selten tue.“ Dirigieren sei heute für ihn vor allem Beruf, „da hilft die jahrzehntelange Erfahrung. Aber vor manchen Auftritten hat man trotzdem plötzlich eine Nervosität.“ Und dann? Er berichtet vom Gustav-Mahler-Jugendorchester, eine internationale Talentschmiede, mit dem er gearbeitet hat. Er erzählte den jungen Nachwuchstalenten, wie er selbst mit Lampenfieber umgeht. „Man kann sein Ich mit all seinen Ängsten für die Dauer des Konzerts in Gedanken ablegen wie eine Jacke. Man vereinigt sich zuerst mit seinen Mitmusikern auf einer Bühne wie zu einem einheitlichen Organismus, bevor man nur einen Ton spielt. Das gibt einem Schutz.“
Die Zusammenarbeit mit diesem besonderen Jugendorchester habe auch ihn selbst verändert, sagt er. „Noch nie konnte ich so weit und so tief in die Stücke hinabsteigen wie mit diesen Musikern.“ Er hat eine sehr bildliche und konkrete Vorstellung von Musik und davon, was sie „erzählt“. Auch das macht es für Laien schön, ihm zuzuhören.
Mit dem Jugendorchester spielte er die achte Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch, die im Zweiten Weltkrieg geschrieben wurde. Er erklärte den jungen Musikern, dass es in dieser Musik nicht nur um Schönheit geht, „sondern auch um die Wahrheit. Und dass diese eben teilweise hässlich oder erschreckend ist.“ Es sei eine Musik, die aufwühle und zum Denken anrege. „Und genau das haben sie getan.“ Achtmal spielten sie die Sinfonie im Konzert, erinnert er sich. „Beim achten Mal hatte ich fast zittrige Knie, weil ich wusste, jeder Ton war mit ihrem Herzblut gespielt.“
Ich frage, ob es von dem Konzert eine Aufnahme gibt. Er weiß es nicht und findet es auch nicht so wichtig. „Es ist etwas anderes, ein Konzert in der Gemeinschaft mit anderen Menschen zu erleben, die mit ihrer Musik in eine Verbindung mit uns treten.“ Wir sind inzwischen wieder am Büro des RSB angekommen. Ich komme kurz mit nach oben ins Büro, um den Schirm zu holen. Dann beginnt es wieder zu regnen.
Zur Person: Vladimir Jurowski
Persönliches: Vladimir Jurowski wurde 1972 in Moskau geboren. 1990 zog er mit seinen Eltern und den beiden jüngeren Geschwistern nach Deutschland. Er lebt heute mit seiner Frau und zwei Kindern in Dahlem.
Ausbildung: Er begann seine musikalische Ausbildung in Moskau, studierte in Dresden und an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ in Berlin. 1996 debütierte er im Royal Opera House in London mit „Nabucco“.
Karriere: Jurowski wurde 1997 Erster Kapellmeister an der Komischen Oper Berlin (bis 2001), war Musikdirektor der Glyndebourne Festival Opera (2001 bis 2013), ist seit 2007 Chefdirigent des London Philharmonic Orchestra. Seit Herbst 2017 leitet er als Chefdirigent das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin. Weitere Engagements hat er in Moskau und Bukarest, er arbeitet mit dem Chamber Orchestra of Europe und dem Ensemble unitedberlin. Ab 2021 wird er Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper in München. Bei den International Opera Awards in London wurde Jurowski gerade als bester Dirigent ausgezeichnet.
Spaziergang: Die Route: Charlottenstraße am Gendarmenmarkt über Hausvogteiplatz, Niederwallstraße und Leipziger Straße und zurück über Französische Straße.