Staatsoper

Premiere von „Romeo und Julia“: Ungebremst Richtung Finale

| Lesedauer: 4 Minuten
Elena Philipp
Polina Semionova und Ivan Zaytsev als Romeo und Julia in der Inszenierung von Nacho Duato an der Staatsoper Berlin

Polina Semionova und Ivan Zaytsev als Romeo und Julia in der Inszenierung von Nacho Duato an der Staatsoper Berlin

Foto: Eventpress Hoensch

Mit „Romeo und Julia“ bringt Nacho Duato ein letztes abendfüllendes Handlungsballett auf die Staatsopernbühne.

Berlin. Welche Dramatik, welche Rasanz! Als letzte Großtat seiner verfrüht beendeten Intendanz am Staatsballett holt Nacho Duato erneut eines seiner abendfüllenden Handlungsballette aus der Schublade: „Romeo und Julia“, 1998 entstanden für die Compañía Nacional de Danza in Madrid. Ein Akt von Schönheit und Vergeblichkeit, wie die Liebe des jungen Paares aus Shakespeares Theaterstück: Nach nur sieben Vorstellungen wird Duatos Ballett schon wieder abgespielt sein.

Wiederbelebt werden soll dafür in der kommenden Saison – der ersten unter den neuen Intendanten an der Staatsoper Unter den Linden, Johannes Öhman und Sasha Waltz – John Crankos Version von „Romeo und Julia“ aus dem Jahr 1962. Duatos Vier-Jahres-Intendanz wird restlos ausgestrichen.

Scheinbar unbeirrt hiervon feierte das Staatsballett am Sonntagabend dennoch die Premiere an der Staatsoper. Und, bemerkenswert nach all der Unzufriedenheit mit Nacho Duato und seinen bonbonbunten Handlungsballetten wie „Dornröschen“ oder dem „Nussknacker“: „Romeo und Julia“ überzeugt. Vorrangig verdankt sich das der Besetzung. Dauergast Polina Semionova tanzt zur Premiere die Julia. Wieder einmal müssen sich Erste Solistinnen beim Staatsballett wie Ksenia Ovsyanick und Elisa Carrillo Cabrera als Zweitbesetzungen hinten anstellen. Polina Semionovas darstellerisches Vermögen ist dann aber auch staunenswert – welcher Reichtum an Emotionen, die sie in Mimik und Gestik zu gestalten weiß, vom verspielten oder ungebärdigen Mädchen bis zur zugewandten Geliebten, die Romeo nach der Hochzeitsnacht fürsorglich das Hemd reicht.

An ihrer Seite hat Duato den Ballerino Ivan Zaytsev engagiert, der den Romeo schon an Duatos vorheriger Wirkungsstätte, dem Michailowski-Theater Sankt Petersburg, verkörpert hat. Zaytsev hat eine vitale darstellerische Präsenz und harmoniert aufs Beste mit Semionova, die zuletzt, im „Don Quixote“, im Staatsballett-Prinzipal Marian Walter keinen ganz adäquaten Partner fand.

Anrührend ist das Pas de deux der beiden in der Balkonszene. Erschreckt duckt sich Julia unter den Fensterrahmen, als sie Romeo erblickt. Doch die Sehnsucht ist stärker, sie trifft ihn heimlich im Garten – den man imaginieren muss auf der angenehm schlichten, durch fahrbare Kulissenteile mit Fenster- und Türnischen sowie Treppen gestaltbaren Bühne (Jaffar Chalabi nach Carles Puyol und Pau Renda). Zuerst schiebt Julia ihre Hand, dann den Unterarm um den Türrahmen, spielerisch, schüchtern und wirkungsbewusst. Ausgehend von einem Aneinanderlegen der Handflächen finden die beiden als Paar in ein Zwiegespräch, zu zärtlichen Umschlingungen und gewagten Hebefiguren. Die Staatskapelle Berlin unter Paul Connelly begleitet das mit einer sinnlich-vielfarbigen Interpretation von Prokofjews Ballettmusik – eine anrührende Übersetzung des Liebesrausches in Bewegung.

Stilelemente der Moderne statt klassischer Virtuosität

Duatos Choreografie folgt der Rasanz von Prokofjews Komposition. Auf spiralförmig gekippten Bahnen schwingen die Herren die Damen um ihre Körper, dass man den Sog der Fliehkräfte noch auf dem Polstersitz zu spüren meint. Streichungen im dritten Akt beschleunigen die Handlung, das Geschehen rast ungebremst auf das Finale zu: den Tod. Ohne viel Sentimentalität, aber mit ordentlich Suspense enden die Liebenden in der Familiengruft der Capulets. Vorhang, Beifall, Jubel, für Semionova und Zaytsev, aber auch Federico Spallitta, einen Tybalt mit samtschwarzer Verve, und Arshak Ghalumyan, der als Mercutio glänzt mit kraftvoller Eleganz, Witz und Expressivität.

Auf die Ausdruckskraft der Protagonisten zu setzen, ist also eine kluge Entscheidung Duatos – tänzerische Virtuosität ist in seiner Version von „Romeo und Julia“ kaum gefragt. Getanzt wird in Schläppchen. Erdig gestaltet Duato die Choreografie, mit Anklängen an den Modernen Tanz und dessen Bodennähe, mit Alltagsgesten und einer fast derben Komik bei den als Bauern gezeichneten Mitgliedern der Familie Montague. Durchschossen ist das klassische Ballettidiom mit Zeitgenössischem wie geflexten Füßen und gestreckten Armen.

In diesem nicht immer flüssig verbundenen Vokabularmix liegt auch die große Schwäche des Abends: Immer wieder bricht eine Bewegung unorganisch ab. Manierismen sind nur gelegentlich erzählerisch motiviert, bleiben allzu oft Ornament. Unfreiwillig komisch ist nicht zuletzt der Taschentuchtanz, bei dem das Corps sich die Kiefer hochbinden muss und das Leinzeug zwischen die Zähne nimmt.

Und doch verzeiht man Einiges, wie schon beim „Don Quixote“ – allein aufgrund der darstellerischen und tänzerischen Qualität: Polina Semionova ist eine Weltklassetänzerin, die sich selbst Duatos sperrige Tanzsprache zu eigen machen kann. Auf eine Primaballerina ihres Formats musste Berlin allzu lange verzichten.