Berlin. Keiner kann sich daran erinnern, sie jemals zuvor auf der Bühne gesehen zu haben – und auch an diesem Abend sind es nur wenige Augenblicke, die sie auf dem Podium der Philharmonie bei diesem Late-Night-Konzert der Berliner Philharmoniker gemeinsam verbringen: Simon Rattle, der scheidende Chefdirigent des Orchesters, und Max Raabe, der große Berliner Chansonnier.
Woher kennen die sich? Man wäre gerne bei den privaten Abendessen und Empfängen der mittlerweile zahlreichen Berliner Musiker-Weltstars dabei und würde Zeuge mancher spektakulärer Konzertideen und künstlerischer Allianzen. Man wird aber nicht eingeladen, tja. Rattle will Max Raabe erst vor drei Wochen gefragt haben, ob er bei dieser Late Night dabei sein will, „für sehr wenig Geld und eine Flasche guten Wein“. Wie es so seine Art sei, habe Raabe zugesagt, fügt der Dirigent schmunzelnd auf Deutsch hinzu.
Max Raabe ist an diesem späten Abend eher der Überraschungsgast, der hereinhuscht, unter großem Applaus des Publikums – im letzten Drittel dieser präzise berechneten Stunde in der voll besetzten Philharmonie. Raabe findet eine jazz-affine rötliche Saalbeleuchtung vor, ein gut gelauntes Publikum und eine Bigband, die keineswegs nur mit Musikern der Berliner Philharmoniker besetzt ist: Mit dabei sind zahlreiche junge Stipendiaten des Orchesters sowie Spezialisten an den Saxofonen, am Schlagzeug.
Paul Whiteman, der vor über 50 Jahren gestorbene US-amerikanische Bandleader, scheint in Simon Rattles Biografie einige Bedeutung zu haben. Rattle hat auf jeden Fall ein Faible für die alten Bigband-Klassiker der 1940er-Jahre. Unvergessen ist sein Pauken-Auftritt mit dem John-Wilson-Orchestra, das er vor zwei Jahren aus seiner Heimat Großbritannien zum Musikfest nach Berlin vermittelte. Die Late Night hat Sir Simon sicht- und hörbar nach dem Wilson-Vorbild geformt, dem Konzert aber eine spezifisch berlinische Note verliehen: So erklingt auch Musik des Berliner Paul Whitemans, also von Mitja Nikisch, dem Sohn des ersten Philharmoniker-Chefdirigenten Artur Nikisch.
Rattles Leidenschaft für Whiteman ihrerseits ist früh in seinem Leben gereift: Rattle greift gleich zu Beginn zum Mikrofon und erzählt, wie er einst an seiner britischen Universität – es dürfte die Royal Academy of Music in London gewesen sein – die Bigband-Orchesterparts von Whitemans Hit „Happy Feet“ fand. Die Ringe der Whiskey-Gläser sollen noch auf dem Papier zu sehen gewesen sein. Kein Zweifel, die Trinker waren unter anderem die Jazz-Legenden Bing Crosby (Gesang) und Bix Beiderbecke (Kornett). Die Namen einiger Musiker, so Rattle, standen auf den Orchesterstimmen.
Es sind nicht immer die Philharmoniker, die bei dieser Late Night brillieren. Auf sich aufmerksam machen zunächst vor allem der Konzerthaus-Trompeter Stephan Stadtfeld sowie Maike Krullmann vom Berliner Saxophon-Ensemble clair-obscure mit dem weichen und wandelbaren Klang ihres Alt-Saxofons. Von Philharmoniker-Seite her ist die bald erklingende Rhapsody in Blue von George Gershwin tendenziell eine Enttäuschung. Zu nervös ob der großen Ehre, mit Sir Simon zusammen musizieren zu dürfen, zeigt sich der Solopianist Miroslav Lacko. In den virtuos dahinstürmenden Soli von Gershwins Klavierpart fällt vieles unter den Tisch, vieles bleibt ob mangelhafter Klangbalance unhörbar. Später kann der mit seiner Leistung sichtbar unzufriedene Lacko in der Whiteman-Nummer „Makin’ Whoopee“ noch mal einiges wettmachen und zeigen, was er kann, aber die Rhapsody in Blue zuvor bleibt zweifellos auch durch Rattles zu schnell gewählte Tempi und die hektisch agierenden Blechbläser unbefriedigend.
Max Raabe selbst tritt eher bescheiden auf und dezent – anders kennt man es von ihm auch nicht, so große Begeisterungsstürme er weltweit auch entfachen kann. Neben dem quirligen und grinsend seine Musikerinnen und Musiker motivierenden Rattle schafft es Raabe seinerseits, mit hochgezogener Augenbraue mehr Ruhe ins Geschehen zu bringen, als er Gene Austins „My Blue Heaven“ aus dem Jahr 1927 anstimmt – zweifellos eine Epoche, die Max Raabe musikalisch zu seinen liebsten zählt. Auch das hat den Charakter eines Gastspiels. Kaum hat Raabe eine Strophe gesungen, setzt er sich auf einen Stuhl im Hintergrund und lässt Rattles Bigband den Vortritt.
Es ist am Ende doch die Show des scheidenden Chefdirigenten. Die Tränen, die Rattle zum Abschied von seinem Publikum nach diesem launigen Abend verdrückt, sind auf jeden Fall echt. Mit einem trotzigen „Genug der sentimentalen Momente“ wischt Rattle aber alle aufkommende Melancholie beiseite – und lässt weiter spielen.