Berlin. Da steht er nun mitten im Raum – gedrungen, massig, kraftvoll. Um ihn herum viel Gold, prächtige Bischofshüte, üppige Faltenwürfe und rotbäckige Heilige, dazu Altäre und zarte Marienfiguren. Mangaaka, eine Kraftfigur aus dem 19. Jahrhundert, sie stammt aus dem Kongo oder aus Angola, und sie erinnert an Comic-Superhelden.
Ein Wesen mit Superkräften, das mit seinen vielen Nägeln im hölzernen Leib und seinen aufgerissenen Augen urplötzlich in einer christlichen Welt gelandet ist, in der fast über jedem Kopf ein Heiligenschein erstrahlt. Eine Welt, deren Epizentrum eine zarte Frau zu sein scheint, die ein nacktes Baby auf dem Arm hält. Und Mangaaka wundert sich – wo bin ich hier? Eben stand ich doch noch als Götze am Fluss Chiloango und habe versucht, meine Leute zu schützen. Jetzt bin ich hier und beherrsche diesen abendländischen Saal.
„Unvergleichlich – Kunst aus Afrika im Bode-Museum“, so heißt die Schau, und sie ist nur eine von mehreren aktuellen Ausstellungen, die verdeutlichen sollen, was es heißt, wenn bald die Sammlungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst aus dem Süden Berlins, aus Dahlem, nach Mitte ins Humboldt Forum umziehen werden. Ein Vorgeschmack also auf das, was ab Ende 2019 kommen soll. Oder, um es mit Hermann Parzinger, dem Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK), zu sagen: „Wir wollen die außereuropäischen Sammlungen stärker in einen Dialog mit anderen Museen bringen.“ Mangaaka meets Maria.
Ja, man wird bald nahe beieinander wohnen. Denn gegenüber der Museumsinsel, auf der anderen Straßenseite, geht das wiederaufgebaute Schloss seiner Vollendung entgegen. Egal, wie groß der Unmut war und ist, jetzt kann es niemand mehr verdrängen: Das Schloss steht da. Und in wenigen Monaten schon werden die Großobjekte aus den Dahlemer Museen, die Boote und Versammlungshäuser der Südsee, per Kran in die Etagen des Schlosses gehoben. Das Spektakel kann beginnen. Bislang aber, das kann niemand leugnen, ist von einer Begeisterung der Berliner für ihren Schlossneubau nicht viel zu spüren. Neugier ist da, das schon – fast 40.000 Besucher sahen sich an einem Sommerwochenende, am Tag der offenen Tür, die Schlossbaustelle an. Trotzdem bleibt die Stimmung verhalten.
Das hat sicherlich mit dem Bau zu tun – ein Schloss ohne König bleibt eben doch eine sonderbare Sache. Und Preußen, ja Preußen ist lange tot. Jüngere können mit dem Begriff kaum mehr etwas anfangen. Preußen, wo liegt das, wo lag das? Die Dimension des Gebäudes tut ihr Übriges. Wäre dieses Retro-Schloss klein und handzahm, es hätte wohl keine heftigen Debatten ausgelöst. Aber so ist es der neue Platzhirsch. Sehr raumgreifend, hoch bekuppelt, unübersehbar anspruchsvoll steht es mitten im Herzen Berlins, mitten im Jahre 2017.
Und als sei das Fremdeln mit dem Gebäude noch nicht genug, überschattet das Schloss auch noch eine Diskussion über die neuen Bewohner, die jetzt ins Humboldt Forum einziehen – die außereuropäische Dahlemer Sammlungen. Denn ausgerechnet in diese pseudopreußischen Hallen kommen Stücke hinein, die teils zu deutschen Kolonialzeiten zusammengeklaubt wurden. Die man unter falschen Versprechungen entwendete, unter Wert ankaufte oder gegen Nichtigkeiten eintauschte – wie den Thron aus Kamerun, den der dortige König für eine Musikbox weggab. Christian Kopp von der Initiative „No Humboldt 21!“ formuliert es so: „Das Humboldt Forum und sein Kolonialpalast sind im Zentrum, nicht nur Berlins, sondern Deutschlands. Deshalb kriegen die Objekte eine völlig andere Aufladung, eine ganz andere Bedeutung.“ In seinen Augen eine herrische. Eben koloniale.
Das postpreußische Schloss als später Kolonialpalast? Die deutsche Kolonialzeit dominierte in den letzten Monaten die Diskussion über das Humboldt Forum. Und der große Knall kam, als die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy im Sommer den Expertenbeirat des Hauses verließ. Sie warf der SPK in einem Interview vieles vor, besonders Behäbigkeit und Verantwortungslosigkeit, wenn es darum gehe aufzuklären, wie genau die Stücke überhaupt ins Museum gelangt waren. Provenienz-, also Herkunftsforschung nennt man das. Und dann formulierte sie einen ziemlich eindrücklichen Satz: „Ich will wissen, wie viel Blut von einem Kunstwerk tropft, wie viel wissenschaftlicher Ehrgeiz darin steckt, wie viel archäologisches Glück.“
Hängengeblieben ist von dem Satz nur das Blut. Und so fragt man sich nun, wie problematisch, wie verwerflich sind eigentlich diese Sammlungen aus Dahlem, die aus dem ehemaligen „Königlichen Museum für Völkerkunde“ hervorgegangen sind? Rund 500.000 Objekte lagern dort draußen, dazu Fotos, Filme, Schriftdokumente und Tonträger. Wir haben eine bedeutende Afrika-Sammlung, eine riesige Nord- und Mittelamerika-Sammlung, eine wunderbare Asien-Sammlung. Aber darf man sich daran überhaupt erfreuen, wenn alles so kolonial belastet zu sein scheint?
Hermann Parzinger, Präsident der SPK und Gründungsintendant des Humboldt Forums, sitzt in seinem Büro und versucht, sich nicht zu ärgern. Tut es aber vermutlich doch. „Wenn man sagt, dass einen nur interessiert, wie viel Blut von den Objekten tropft, ist das eine sehr eindimensionale und eurozentrische Sicht“, sagt er. Interessanterweise hat niemand im Raum zuvor den Satz von Bénédicte Savoy zitiert oder überhaupt von ihr gesprochen. Aber ihre Worte sind ihm offenbar, auch ohne zitiert zu werden, präsent, sie geistern durchs Haus und arbeiten in ihm. Was er sagen will: Die ethnologischen Objekte sind ja viel mehr als nur die Geschichte ihrer Erwerbung. Sie haben eine Funktion, eine Schönheit, einen Zauber. Auch darum geht es im Museum. Bislang ging es eigentlich ausschließlich darum.
Als die Museen in Dahlem noch offen waren – die Ethnologische Sammlung und das Museum für Asiatische Kunst – gab es kaum Diskussionen über die Herkunft der Stücke. Das liegt daran, dass Provenienzforschung erst in den letzten Jahren an Fahrt gewonnen hat, nicht zuletzt im Kontext der NS-Raubkunst und der Rückforderungen. Und dass erst jetzt viele zum Teil ja noch junge Nationen in Asien, Amerika, Afrika ihre Geschichte selbstbewusst entdecken und sich nun fragen, warum wichtiges Kulturgut fernab in europäischen Hauptstädten unzugänglich lagert. Und zu guter Letzt hat es einfach damit zu tun, dass der Bestand am Rande Berlins in einem Dämmerschlaf lag. In sozusagen unverdächtigen Häusern, heruntergekühlt in modernistische 60er-Jahre-Architektur, sah alles harmlos aus. Jetzt aber im Preußenschloss. Jetzt ist der Dämmer vorbei. Jetzt sind alle wach und haben eine starke Meinung.
Auch Parzinger glaubt, der Ortswechsel ins Neo-Schloss nach Mitte „verschärft vielleicht die Diskussion. Dadurch entsteht eine Spannung, mit der man sich auseinandersetzen muss, da führt kein Weg dran vorbei.“ Dass die koloniale Vergangenheit in den Dauerausstellungen im zweiten und dritten Stock des Schlosses zum Thema gemacht werden würde, war schon früh bei der Ausstellungsplanung klar. Aber beim Thema Provenienz hat man tatsächlich entscheidende Jahre verschlafen, auch beim gerechten Umgang mit den Herkunftsorten – den „Communities“ – steht man nicht gut da, genauso wie mit der Handhabung sterblicher Überreste, den „human remains“.
Doch fairerweise muss man sagen, die Sensibilisierung für solche Themen war international lange Zeit lau, nicht nur in Deutschland, nicht nur in Berlin. Und – kleiner ironischer Dreh der Geschichte – gerade der umstrittene Schlossneubau hat wohl dazu geführt, dass diese Forderungen jetzt mit Verve vorgebracht werden. Das erhöht den Druck und macht hoffentlich manches möglich. Um noch einmal Parzinger sprechen zu lassen: „Das Positive an dieser etwas überzogenen Diskussion ist: Der Politik wurde klar, dass sie uns unterstützen und entsprechende Rahmenbedingung schaffen muss.“ Sprich: Geld, um die Herkunft der Objekte zu erforschen.
Die Neugier und der Wunsch, mehr zu wissen, sie sind da – auch in den Museen selbst. Beim Workshop zur „Provenienz Ostasiatischer Kunst“, der Mitte Oktober in den Räumen des Dahlemer Museums stattfand, drängten sich die Teilnehmer: Kuratoren aus Dahlem und vielen anderen deutschen Museen mischten sich mit Forschern. Universitäten und Museumsleute, sie arbeiten auf dem Feld der Provenienz heute Hand in Hand, arbeiten einander zu. Das wurde gleich zu Beginn klar. Denn Bénédicte Savoy hielt zu Anfang das Grußwort und sprach davon, wie eng man eigentlich zusammenarbeite: die Forscher an der Universität seien „weit weg von den Objekten“, die Mitarbeiter der Museen „nah dran an den Objekten“. So ergänze man sich. Von einer „überzogenen“ Diskussion würde hier wohl keiner sprechen. Man ist eher überwältigt davon, wie vieles man noch nicht weiß.

Aber manches weiß man eben doch. Beispielsweise das eindrucksvolle Porträt des Dawaci, das wir auf dem Titel zeigen. Es hängt im Moment im Kulturforum in der Ausstellung „Gesichter Asiens“. Den Weg nach Berlin fand es im Zuge von Plünderungen chinesischer Paläste und Ruhmeshallen nach dem Boxeraufstand um 1900, den auch Soldaten des deutschen Kaiserreichs, neben anderen Nationen, niederschlugen. Der Bestand des Museums für Asiatische Kunst hat von diesen Plünderungen profitiert und auch vom Kunsthandel auf Pekings Straßen danach – denn nicht nur fremde Soldaten plünderten, auch die Chinesen selbst. Unmittelbar danach gab es einen florierenden Handel mit Asiatika, den man heute an europäischen Auktionskatalogen nachweisen kann. So etwas ist auf jeden Fall in einer Ausstellung erzählenswert.
Wie immer, wenn man genau hinschaut, entdeckt man Unerwartetes. Zum Beispiel auch den empathischen Forscher aus Deutschland, das damals ja noch kein Deutschland war, der in die Welt hinausging, um sie zu entdecken und zu begreifen. Ja, auch diesen Typus gab es, nicht nur gierige Räubernaturen.
Die ethnologische Sammlung in Berlin kam auf sehr unterschiedliche Weise zusammen, sie ist bei Weitem nicht kolonial dominiert. Der zweite Gründungsintendant Horst Bredekamp, auch er ist ein Kunsthistoriker, versucht immer wieder, auch die Freude an der Sammlung zu betonen, die lange in der Humboldtschen Tradition stand: weit über den Tellerrand hinauszublicken. Die Idee des „Weltbürgertums“, sie war einst ein deutscher Exportschlager.
„Die Provenienzforschung, wenn man sie als Erforschung der Biografie von Werken einsetzt, also vom Objekt her denkt, ist ein vorzügliches Instrument, viele Fragen, die uns heute betreffen, völlig neu und in einer weniger verkrampften Art zu durchdenken“, meint Bredekamp. Sprich: Womöglich zeigt das Humboldt Forum auch unsere guten Traditionen. Ohne die dunklen wegzulassen. Für die einen eine Entdeckung, für andere ein Skandal?
Das Humboldt Forum, es bleibt spannend. Das räumen sogar seine Gegner von „No Humboldt 21“ ein. „Es ist nicht so, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass man mit diesem Schloss und mit den Objekten darin nicht konstruktiv umgehen kann“, sagt Christian Kopp am Ende eines längeren Gesprächs. Aber dazu müsse man den Dialog mit den Herkunftsgesellschaften suchen, deren Einverständnis einholen. Ohne Transparenz und Einvernehmen gehe es nicht. Der Druck bleibt hoch. Das ist der Preis der Mitte. Gut so.