Robert Wilsons Produktion „Luther. Dancing with the Gods“ nutzt das Oval des Pierre-Boulez-Saals auf kongeniale Weise.
Kann es sein, dass der Pierre-Boulez-Saal vor allem für eine Inszenierung des Theatermagiers Robert Wilson gebaut wurde? Nein, so war es natürlich nicht. Dennoch: Wilsons im Auftrag des Rundfunkchors Berlin erarbeitete Produktion „Luther. Dancing with the Gods“ nutzt das Oval des Saals auf kongeniale Weise. Raum und künstlerische Idee scheinen zu verschmelzen: Der pechschwarze, von einem neonweißen Leuchtstreifen umgrenzte Boden des Podiums in dem arenenhaften Saal, der Chor, der als Gruppe schwarzer Luzifers kostümiert ist und der das Publikum von der ersten Ebene des Saals aus umsingt: So dramaturgisch ausgefeilt der Abend ist, so einfach und schlagend wirkt Wilsons Idee, den von so vielen komplexen und grausamen Konflikten durchzogenen historischen Raum von Reformation und Protestantismus in den Farben Schwarz und Weiß zu neutralisieren.
Zu Beginn wird gleich mal die Religion als solche neutralisiert, das Bild einer genuin männlichen Verkündigung entkräftet: Als typische Fantasiegestalt aus dem Theaterkosmos Robert Wilsons, als stilisiert engelhaftes Zwischenwesen mit dämonisch schwarzen Flügeln tritt Lydia Koniordou – in ihrer Heimat Griechenland ist sie Kultusministerin – vor die Zuschauer und rezitiert Ausschnitte aus der griechischen Vorlage der Luther-Übersetzung. Erstes Buch Mose, Apostelgeschichte, Römerbriefe des Paulus. Semantisch unverständlich ist das für das deutschsprachige Publikum, doch der Erstzugriff auf Luthers Erbe und Gedankenwelt, der Zugriff auf Luthers Zentralgedanken „Am Anfang war das Wort“ speist sich in Wilsons Theater nicht ohne Plausibilität aus dem abstrakt Bedeutungsvollen einer unverständlichen Sprache und dem anfänglichem Gar-nichts-Verstehen. Ins Verstehbare wendet der Schauspieler Jürgen Holtz in Gestalt Martin Luthers das Spiel, mit der Rezitation des Apokalypse-Textes aus Luthers Bibel.
Der Rundfunkchor unter Leitung seines Chefs Gijs Leenaars tritt bald mit der Bach-Motette „Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf“ von hinten an das kreisrund sitzende Publikum heran, zunächst noch mit einiger Unsicherheit in der gemischten Anordnung der Stimmen, dann mit zunehmender gesanglichen Souveränität. Was der Chor an theatralen Gruppenbildern in den Raum stellt, ist semantisch allerdings mit sich Verweisen auf Religions- und Kunstgeschichte überladen. Wilson wäre aber nicht Wilson, wenn er die Dämonen des überbordenen Intellekts nicht zu bannen wüsste, übrigens mit Hilfe Luthers. Der empfahl den religiösen Diskutanten und Hitzköpfen, den Blick auf Gott und seine Schöpfung von Kindern zu übernehmen. Nicht zufällig ist es ein Kind (Serafin Mishiev), das dieses verdienstvolle und verrätselten Theater-Experiment eröffnet und schließt – ein Experiment ist es, weil es nach 500 Jahren Reformation den schwierigen doch einzig möglichen zeitgemäßen Blick auf die Gedanken des Reformators wählt: Der zwar nicht gläubige, aber staunende Mensch von heute kann die chaotische religiöse Welt seiner Vorfahren nur aus Wilsons Vogelperspektive angemessen erfahren.
Weitere Vorstellungen am 6., 7., 8., 10., 11., 12. Oktober um 20 Uhr.