Kultur

Orozco-Estrada dirigiert erstmals die Philharmoniker

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Felix Stephan

Wenn sich ein Pianist heutzutage mit Rachmaninoffs ebenso unbeliebtem wie unbekanntem vierten Klavierkonzert beschäftigt, kann das eigentlich nur zweierlei bedeuten: Entweder er plant eine Gesamtaufnahme aller Rachmaninoff-Klavierkonzerte oder er hat dies bereits hinter sich. Auf den Norweger Leif Ove Andsnes trifft Letzteres zu. Rachmaninoffs erstes und zweites Klavierkonzert hatte er bereits 2005 mit den Berliner Philharmonikern eingespielt, später folgten die beiden übrigen mit dem London Symphony Orchestra. Dass sich die Philharmoniker nun ebenfalls auf Rachmaninoffs viertes Klavierkonzert einlassen, spricht für das besondere freundschaftliche Verhältnis, das zwischen Pianist und Orchester herrscht: Nach 33 langen Jahren holen die Musiker die Partitur aus den Tiefen ihres Notenarchivs hervor, und dies auf so hochengagierte Weise, dass keine Zweifel über die Qualität des Werkes aufkommen.

Leif Ove Andsnes präsentiert sich erwartungsgemäß als seriöser Gestalter. Sein Ton atmet klassizistische Kühle und Klarheit, Virtuosität gerät bei ihm nie zum Selbstzweck. Vor den Ohren des Publikums entsteht ein sinfonischer Rachmaninoff mit Solist und Orchester als gleichberechtigten, sehr genau aufeinander hörenden Partnern. Und das ist nicht zuletzt dem Gastdirigenten Andrés Orozco-Estrada zu verdanken, der an diesem Abend zwar erstmalig vor den Philharmonikern steht, doch in keinem Moment wie ein Debütant wirkt.

Mut beweist der 39-jährige Kolumbianer auch mit Richard Strauss’ „Macbeth“, einem weiteren Sorgenkind der Spätromantik. Der junge Strauss fährt in dieser ersten Tondichtung aus dem Jahre 1888 so ziemlich alles auf, was spätestens seit Mozarts Oper „Don Giovanni“ mit der Tonart d-Moll verknüpft wird. Dunkelheit und Unheil, Tod und Verdammnis dringen hier aus allen Ritzen. Orozco-Estrada schnürt diese Musik zu einem aggressiven Paket zusammen.

Stramm und zackig geht Orozco-Estrada auch die zweite Konzerthälfte an. Schostakowitsch ist nun mit seiner fünften Sinfonie vertreten. Ein Paradestück der Philharmoniker, das sie so häufig aufgeführt haben wie sonst keine andere Schostakowitsch-Sinfonie. Fern aller Routine erweckt Oroczco-Estrada die Partitur ein weiteres Mal zum Leben. Er zwingt das Orchester zu einem beglückenden 50-minütigen Kraftakt zwischen Resignation und Widerstand, Trauer und Groteske. Felix Stephan