Sehr geehrte Damen und Herren, lieber Christoph Marthaler, liebe „Marthaler-Familie“, heute darf ich anlässlich der Verleihung des Friedrich-Luft-Preises an das Stück „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ ein paar Worte über einen Künstler verlieren, dessen Biografie und Werk auf einzigartige Weise von Musik und der verlässlichen Neigung zur Kollektivitat geprägt ist. Christoph Marthaler war und ist ein Theatermusiker, ein Meister, der auf zwei Blockflöten die Brandenburgischen Konzerte zu spielen vermag, Oboe studiert und sich erst spät, Anfang der 90er-Jahre, der Inszenierung im Theater zugewandt hat. Zum Seelenmusiker wurde, wie Hans-Dieter Schütt ihn nannte.
Über „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ lässt sich kaum sprechen, ohne auf eines der erfolgreichsten Stücke der Volksbühne in der Castorf-Ära einzugehen. Damals begann Marthaler hier an der Volksbühne, was mit dem heutigen Stück endet. Und manches darin kommt uns doch sehr bekannt vor. „Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab! Ein patriotischer Abend“ stand 13 Jahre auf dem Spielplan. So klar war das anfangs nicht. Dieses Erfolgsstück begann nur sehr langsam zu entflammen. Ob man das Stück nicht besser absetzen sollte? So diskutierte man es am Anfang. Und dass es ja ganz schön sei, dass Marthaler einen Liederabend an die Volksbühne gebracht habe, es aber doch nun „auch mal richtiges Theater“ geben könnte …
Schon damals diese grandiose Raumerschaffung. Der düstere, hohe Wartesaal, entwickelt von Anna Viebrock, die die „Kunst der Einkerkerung“ meisterhaft beherrscht. Zusammengesetzt aus Elementen des Volksbühnen-Interieurs, einschließlich der Heizkessel aus dem Keller. Szenische Zuschreibungen existieren dort nicht. Was zählt, sind Raum und Zeit. An der Wand lesen wir: „Damit die Zeit nicht stehen bleibt.“ Nach und nach fallen einzelne Buchstaben ab. Daneben die Uhr, die stillsteht. Beides, Spruch und Uhr, entlehnt der Ankunftshalle des inzwischen selbst stillstehenden Zentralflughafengebäudes Tempelhof, Ironie der Geschichte. Im Hintergrund hämmert und knarzt es im Gebälk, unvermittelt dröhnt eine Tröte und bringt Unordnung in die Unordnung.
Auch bei „Bekannte Gefühle“ gibt es wieder dieses Spiel mit der Zeit im Raum: Es ist ein Abend, der im gebrauchten Bühnenbild stattfindet. Anna Viebrock schuf diesen Museumssaal für „The 20th Century Blues“ am Vorbild des leer stehenden Naturkundemuseums in Basel. Die kahlen Wände, die den Raum umzäunen, in dem wir Zeugen der Selbstreflexion werden, der Vorführung des Istzustandes einer kleinen Gemeinschaft vor der Musealität, eines Schwebezustands, der den Ortsverlust inszeniert. Ein Niemandsland, in das die Schauspieler von Marc Bodnars Hausmeister verfrachtet werden, als Kisten, Gepäckstücke, als Kunstwerke. In dem die Individuen stehen, sitzen, warten, umherirren, zusammenfinden und wieder auseinandergehen – zwischen Versuch und Scheitern, Kakofonie und chorischer Genialität. Eventuell.
Es ist eine permanente fragile Situation, Annäherung, Entfernung, Kollektivierung und Vereinzelung. Oder wie es Hans-Dieter Schütt beschrieb: „Ein schräges Weltbild aus lauter Verstörungen und Verzückungen, das den Fluss der Dinge kaum in größere Schnelligkeiten versetzt, aber ihm das Geheimnis einer Tiefe gibt, der wir nicht immer auf die Spur kommen werden. All diese Typen tauchen immer mal wieder auf, einzeln, in Grüppchen. Marthalers ungelenke, verschrobene Menschen sind wie Vogelscheuchen in einem Land, in dem es keine Vögel mehr gibt, nur noch Käfige. Jeder weiß doch genau, was er sagen darf und was er verschweigen muss. Andernfalls wäre man ein unmöglicher Mensch.“
Mein erster Marthaler-Abend war tatsächlich „Murx den Europäer!“ vor 20 Jahren. Figuren, die aus der Zeit gefallen zu sein scheinen, nicht taugen für den täglichen Konkurrenzkampf, die sich ihren existenziellen Bedürfnissen widmen, die sabbern, onanieren, essen, im Tee rühren, sich beschimpfen, Beine stellen, sich entblättern, ohrfeigen, brabbeln – und singen, immer wieder singen. Worte werden eingeworfen, genau wie Teebeutel: unerwartete, absurde Textfragmente. „Auf der Erde sind wir alle gleich, aber im Himmel ist dann Ordnung.“ Tröte, Schluss, Waschpause: „Wenn Sie ein Gebiss tragen, können Sie es jetzt herausnehmen!“
Und so erleben wir es erneut bei „Bekannte Gefühle“: „Ich hasse diese Wanderausstellungen“, bricht es aus Irm Hermann heraus. „Du sollst dich im Zweifel für das Richtige entscheiden“, rät sie, beraten vom Glückskeks. Einer wird ihr geklaut. „Das ist ja Mundraub“, heißt es daraufhin: „Hinterher, die Bisse im Gewissen sind beschissen.“ „Ja, man wird uns vergessen, das ist unser Los. Das lässt sich nicht ändern“, heißt es. Und schließlich: „Der liebe Gott kann froh sein, dass es ihn nicht gibt.“
Bei „Murx“ sind es irgendwie ausgemusterte, aus der Zeit gefallene Gestalten zwischen Schlangestehen und Aus-der-Reihe-Tanzen – ähnelten sich da etwa die Schweiz und die Ex-DDR? Bei „Bekannte Gefühle“ sind es die Künstlerinnen und Künstler, die Spielenden selbst, sich und die Umstände, unter denen sie arbeiten, infrage stellend. In die Jahre gekommen, an einem vorläufigen Endpunkt. Man sieht es ihnen nicht an, dass sie ein Vierteljahrhundert älter geworden sind. Nur Susanne Düllmann, Jürgen Rothert, Klaus Mertens, Wilfried Orthmann – sie sind nicht mehr dabei.
Wie entstehen eigentlich solche grandiosen, in die Musik fliehenden Inszenierungen? Als Zuschauender fragte ich mich das natürlich. Das Schöne ist: Wer eine Laudatio auf Christoph Marthaler verfassen will, erhält von seinen Wegbegleitern üppige Auskunft. Danke auch dafür! „Sie haben gesessen, sie haben gesungen, sie haben zwar pünktlich angefangen, aber im Sinne richtiger Theaterarbeit haben sie falsch gearbeitet“, sagte Frank Castorf 1997 über die Arbeitsweise Marthalers und seiner „Familie“. Für den Dramaturgen Malte Ubenauf ist diese „falsche“ Theaterarbeit absolut singulär: Lust, Ruhe, Ausgeglichenheit und Empathie. Am Anfang steht nichts als die thematische Ausgangsidee, der Titel, ein Bühnenbild. Im Raumgeheimnis sind viele Optionen des zu Erfindenden bereits angelegt. Eine wichtige Rolle spielen die Städte, in denen Marthaler arbeitet. Es gibt ja ein Leben jenseits der Probebühne.
Was es bei Christoph Marthaler nicht gibt, ist ein Leben ohne Arbeitsbuch. Das ist eine Art Kladde, in der Skizzen, Fragmente, Gedanken festgehalten werden. Fehlt es, dann erst ist wirklich Grund zur Unruhe. Alexander Scheer hat mir erzählt, am Beginn der Proben zu „lieber nicht“ nach Melville – es waren vier Wochen Zeit bis zur Premiere – habe Christoph Marthaler gesagt: „Wir haben ganz wenig Zeit. Und deshalb lassen wir uns ganz viel Zeit.“ Und so gingen alle erst einmal zusammen essen. Und das ist auch nur konsequent, denn es geht in diesem Stück die ganze Zeit über nur darum, was Leute lieber nicht machen wollen.
Auch bei „Bekannte Gefühle“ muss das so gewesen sein. Der Premierentermin rückte näher, ohne dass ein Stück geprobt wurde. Die allgemeine Unruhe nahm zu. Nicht so bei Marthaler, der in einer Art innerlicher Umkehrung darauf beharrte, sich trotz heranrückenden Termins die nötige Zeit zu nehmen. Spontane Probenverweigerungen, gemeinsames Singen, Gespräche: Daraus entsteht der gemeinsame „Klang“ der Gruppe. Im Endeffekt sei das viel wichtiger als die Bühnenprobe. Es gibt also gewissermaßen eine Playlist, daran entwickelt sich der Zusammenklang. Erst dann verlagert sich die Musik in den Raum, der Text schiebt sich erst nach und nach dazwischen und schlägt Kerben in das Musikalische.
Das gesprochene Wort erscheint bei Marthaler nicht selten wie eine Verlegenheitsäußerung, manchmal vielleicht auch als Notlösung. Bühnenproben zur „Verbesserung“, so etwas gibt es bei Marthaler nicht. Er selbst sagt: „Das ist das Gegenteil von dem, was Theater sein kann. Aber immer wieder taucht es auf: Endproben, ein schlechter Durchlauf, Verzweiflung, man muss es verbessern.“
Einst erschien nach einem Gastspiel der Marthaler-Familie in Moskau eine Rezension in einer russischen Onlinezeitung, die vom Ensemble im Google-Translater verarbeitet wurde. Heraus kam etwas Absurdes. Im Arbeitsbuch „Christoph Marthaler. Haushalts Ritual der Selbstvergessenheit“ ist es abgedruckt. Dort können wir lesen: „Die Frage stellt sich wenn nicht für Marthaler abgeholt Repertoire, in dem alle Songs der Trennung und der Traum, den ich wollte auf zwei Dinge hinweisen. Die erste – in einem Traum, wir sind allein, einsam, und deshalb nur Kraft zum Überleben zu gewinnen. Diese Einsamkeit und Schlaf beginnt in der Realität manifestieren, da die Kräfte auf die Kommunikation inzwischen Menschen weniger. Was soll ich sagen – ein Traum drückt, so dass die Anordnung der europäischen Kultur waren nur süß Märchen klingt, alles, Jazz und Pops und Mahler. Vielleicht mit Ausnahme der Songs, passiert nichts.“ Das ist ein kurzer Auszug, für mehr ist hier keine Zeit. Leider. Aber wer will nicht beipflichten, dass diese Beschreibung sehr nah dran ist am Theater von Christoph Marthaler?
Zum Schluss noch einmal Marthaler selbst: „Utopie ist das Bedürfnis, immer wieder anzufangen und zu suchen. Wir haben als Künstler das Privileg, an Sachen zu bauen, die sonst nirgendwo irgendeinen Sinn haben. Es ist ein Spiel mit Fantasie, dessen Schönheit erst einmal das Privileg dieses Spiels ist, das Privileg, dass wir einen Beruf haben, mit dem man Utopien aufbauen kann. Wer hat diese Chance sonst schon.“ Wir Zuschauenden sind diejenigen, die diese Utopie bauende Kollaboration des Ensembles erleben dürfen, diese Sammlung von Solitären und Kollektiven. Diese fortwährenden Eskapaden, Verlust, Sehnsucht, Unglück, Scheitern zu spielen und singen. Und wohl deshalb Verlust, Sehnsucht, Unglück und Scheitern leichter ertragen können. Mit dem Lachen, das den eigenen Verzweiflungszustand als Befreiung erleben lässt, weil sich im Musikalischen die Tiefenstörung dieser Verzweiflung auflöst.
Lieber Christoph Marthaler, der Friedrich-Luft-Preis der Berliner Morgenpost 2016 geht an Sie – und auch an das Kollektiv, das schon so viele Jahre mit Ihnen arbeitet. Ich wünsche Ihnen noch viele Chancen und Gelegenheiten, Utopien aufzubauen. Und vor allem wünsche ich Ihnen aus purem Egoismus eines Berliner Theaterzuschauers, dass Sie viele dieser Chancen in Berlin erhalten. Herzlichen Glückwunsch!
Der Luft-Preis
Der Friedrich-Luft-Preis ist benannt nach dem Berliner Theaterkritiker Friedrich Luft, wird seit 1992 jährlich von der Berliner Morgenpost an die beste Berliner oder Potsdamer Theateraufführung vergeben. Der Preisträger des mit 7500 Euro dotierten Preises wird von einer siebenköpfigen Jury bestimmt. Zur Jury gehören die Schauspielerinnen Martina Gedeck und Claudia Wiedemer, der Intendant der Berliner Staatsoper Jürgen Flimm, der Gründungsintendant des Deutschlandradios Ernst Elitz, die Autorin Lucy Fricke, die Theaterkritikerin Katrin Pauly sowie Morgenpost-Kulturchef Matthias Wulff.