Glucks “Orfeo ed Euridice“ aus dem Jahr 1762 fordert Kompromisse. Eindrücke von der Premiere der Staatsoper im Schiller-Theater.
Es ist das historisch älteste Musiktheaterwerk, das der Generalmusikdirektor der Staatsoper Daniel Barenboim je dirigiert hat: Glucks einst als Reformoper konzipierte „Orfeo ed Euridice“ aus dem Jahr 1762. Christoph Willibald Gluck wandte sich mit dieser und anderen Bühnenwerken gegen die als starr empfundene barocke Opera seria mit ihren pappmaché-haften Göttern und Helden, ihren ellenlangen Arien und hölzernen Rezitativen.
Die Ironie der Operngeschichte will es, dass die moderne Regie im Verein mit der Originalklang-Bewegung aus jenen jahrhundertelang vergessenen Barockstücken seit etlicher Zeit verdammt lebendiges Musiktheater zaubert. Glucks „Orfeo“ dagegen, durchgängig als ein Schlüsselwerk der Operngeschichte angesehen und zwischen Paris, New York, Berlin und Sidney immer gerne und teuer ausgestattet, birgt bei Aufführungen heute eine Gefahr in sich: Wenn Gluck gegen die längliche Barockoper etwas theatral Schlankes, musikalisch Packendes setzen wollte, so erschließt sich uns Heutigen dieser theatergeschichtliche Umstand nicht von selbst.
Das, was an Musik damals neu und viel konkreter, unmittelbarer war als die abschnurrenden Affekte und Da-Capo-Arien der alten Opera seria, das bildet heute durch Glucks Nachfahren Mozart und Haydn unsere musikalische Muttersprache. An ihr nehmen wir das historisch Skandalöse naturgemäß nicht mehr so recht wahr, und ihre dramatische Absicht perlt nur zu schnell an uns ab.
Einiges wirkt wie ein fauler Kompromiss
Ein früher Bestandteil einer klassizistischen musikalischen Muttersprache: Genau so geht Daniel Barenboim seinen „Orfeo“ zu Beginn der Staatsopern-Festtage mit der Staatskapelle an. Das bedeutet nicht, dass das, was aus dem Graben des Schillertheaters klingt, undifferenziert und nur „irgendwie klassisch“ wäre. Schon in der Ouvertüre weiß das Orchester souverän, aber auch entspannt mit dem heute allgemein gebräuchlichen Wissen spätbarocke Authentizität umzugehen, während Barenboim den Details und kleinen Noten keine Gewalt antut, wenn er sie in seinen bekannten, übergreifenden dirigentischen Zug einbindet. Doch gerade weil sich das Orchester oft so löblich ähnlich verhält wie die aufs 18. Jahrhundert getrimmten Spezialensembles, wirkt einiges wie ein fauler Kompromiss, der stets wunderschöne, aber manchmal merkwürdige Klänge erzeugt.
Ein Beispiel wäre das Flügelhorn, das mit großem Ton klangschön und vollmundig Orfeos Trauer begleitet. Es gehört weder in diese Oper (denn es wurde erst circa 80 Jahre später für Militärkapellen erfunden) noch in Barenboims heißgeliebtes modernes Sinfonieorchester. Man muss nicht historische Authentizität bis in den letzten Winkel des Cembalos fordern, um diese Entscheidung des Dirigenten stilistisch kaltschnäuzig zu finden. Jenseits solcher Unstimmigkeiten gelingen der Staatskapelle nicht nur schöne, sondern auch zutiefst berührende Momente, etwa bei Orfeos und Euridices pastoralem Gang in die Oberwelt unter Begleitung Oboe, Solo-Violine und verhaltenen Hörnern.
Bejung Mehta als Orfeo
In der Oper, auch in der auf Repräsentation getrimmten Staatsoper im Schillertheater des späten Barenboim und des späten Jürgen Flimm geht es aber, so möchte man annehmen, in erster Instanz nicht um visuelle und auditive Schönheit, sondern um musikdramatische Relevanz des Bühnengeschehens. Sie dem Sänger Orfeo zu geben, dazu hat der berühmte Altist Bejun Mehta durchaus die Statur und auch den Willen. Das Zwiegespräch zwischen Orfeo und Euridice in einer zum beklemmend intimen Schlafbungalow mutierten Hölle – dieses Gespräch wird zu einem Höhepunkt nicht nur der sängerdarstellerischen Leistung von Mehta und Anna Prohaska als Euridice, sondern auch von Regisseur Jürgen Flimm.
Orfeo darf Euridice vor der Rückkehr in die Menschenwelt nicht ansehen, sonst stirbt Euridice ein zweites Mal. Bejun Mehta spielt dieses Nicht-Ansehen der Geliebten in allen Steigerungen der Qual aus, er gewinnt aus Glucks orchesterbegleitetem Parlando immense Spannung, zumal die wiedererweckte Freundin nicht den Eindruck macht, als ob sie das Reich der Toten gerne verlassen will. Tatsächlich können diese augenblickhaft gezeigte Spannung und Widersprüchlichkeit die Brisanz und theatrale Unmittelbarkeit jener antiken Urszene des Theaters mit ähnlicher Wirkung zum Leben erwecken, wie Gluck sie seinerseits vor 250 Jahren aufleben lassen wollte.
Mit dem Staatsopern-Hausstar Anna Prohaska, welche in der kleinen Rolle der Euridice längst nicht ihre Fähigkeiten ausspielen kann, bildet Mehta schon dem klaren und hart konturierten Timbre nach in dieser Aufführung eine musikalisch bewundernswerte Einheit. Nadine Sierra als Amore kann mit ihrem eher samtigen Mezzosopran einen wunderbaren klanglichen Gegensatz gestalten.
Flimm rauht nur die Oberfläche auf
Jürgen Flimm gibt sich Mühe, die antike Fabel von der ewigen Verlustangst, die durch Glucks dramaturgische Verknappung und musikalische Lyrisierung in heutigen Ohren sehr glatt wirkt, szenisch aufzumischen. Was herauskommt, ist bestenfalls ein Aufrauhen der Oberfläche. Auch außerhalb von Euridices höllenhaftem Schlafbungalow erleben wir eine heutige Gesellschaft und damit eine Handlung, die fern aller mythischen Ober- und Unterwelten konsequent im bürgerlichen Diesseits spielen soll. Der am Tod seiner Geliebten verzweifelte Orfeo sucht den Thrill und liefert sich für den Gang über den Todesfluss Styx den Geistern in Gestalt einer Ku-klux-Clan-ähnlichen Bande aus, die ihn auf einem Streckbett unter Einsatz von viel Kunstblut dem Tod ziemlich nahe bringt – was aber ob des ungestörten Schöngesangs des Hauptdarstellers kaum besonders frappierend wirkt.
Das stupende Regiehandwerk, das Flimm in der Interaktion von Mehta und Prohaska punktuell zeigt, lässt er beim Aufmarsch der Geister, die zu einer Arie samt Harfenklängen in Kapuzenlook und Gleichschritt über die Bühne marschieren, weitgehend vermissen. Und Bejun Mehtas im Laufe des Abends immer spielender ansprechender, schlank geführter Counter-Alt lässt nur für Augenblicke verzeihen, dass die mythische Angst vor einem substanziellen, unwiederbringlichen Verlust in dieser Aufführung für moderne Sinne nicht angsteinflößend genug aufbereitet wird.