Der Regen, der gegen Ende des Abends einsetzt, wäre nicht nötig gewesen. Die mächtige Spandauer Zitadelle, diese massive Trutzburg aus dem 16. Jahrhundert, ist Schauplatz des „Citadel Music Festivals“. Und auf der Bühne steht ein Mann, der nur unwesentlich jünger wirkt als das Gemäuer, das ihn umgibt. Bob Dylan hat eine mehr als 50 Jahre währende Karriere hinter sich und ein überraschend junges Publikum vor sich, als er am Montagabend vor mehr als 7000 Besuchern mit dem bluesgeschwängerten Song „Leopard-Skin Pill-Box Hat“ vom 1966er-Album „Blonde On Blonde“ sein Berlin-Konzert unter freiem Himmel eröffnet.
Er ist der Poet, der Gaukler, der fahrende Musikant, der Entertainer, dem einem Messias gleich gehuldigt wird. Er schert ihn nicht. Er muss schon langte niemandem mehr etwas beweisen. Er hat das 20. Jahrhundert mit seinen Liedern geprägt. Er ist seit 1988 auf seiner „Never Ending Tour“, gibt seither Jahr für Jahr mehr als 100 Konzerte und – man spürt es bei dieser Zitadellen-Show – will einfach nur noch seinen Spaß haben.
Anfangs steht er mit Sonnenbrille im grob geschnitzten Gesicht lässig an der kleinen Orgel, dirigiert seine exzellente Fünf-Mann-Band, die er in einheitlich graue Anzüge gesteckt hat. Für „It Ain’t Me, Babe“, auch so ein Monolith der 60er-Jahre, tritt er samt E-Gitarre an die Rampe. Er lächelt. Er spielt das Solo, schräg wie immer, man nimmt es ihm nicht übel. Er röchelt, grunzt und bellt seine Lieder mit dieser knorrigen Unstimme in eigenwilligen Phrasierungen und Betonungen. Mitunter dauert es länger, bis man ein Stück tatsächlich erkennt. Das macht er mit Absicht.
Ein Abend mit Bob Dylan und seiner Band gleicht einer Zeitreise in die 50er-Jahre, einem Trip in irgendeinen verruchten, verrauchten Rhythm’n’Blues-Club in Chicago oder New Orleans. Das wirkt alles sehr authentisch. Nur die Lieder sind neuer. Im Mai ist er 71 Jahre alt geworden. Und er trägt eine popgeschichtliche Last auf seinen schmalen Schultern, die er seit Jahrzehnten mit Ironie und ein klein wenig Ignoranz für sich in eine wieder spielbare Form bringt. Er redet wenig auf der Bühne. Er verweigert konsequent Interviews und erteilt Fotografen bei seinen Konzerten ebenso konsequent Hausverbot. Er kommt, singt - und zieht weiter.
Bob Dylan ist der reisender Sänger mit einem bleischweren Bauchladen voller Lieder, die Leben verändert haben, die zu geflügelten Worten geworden sind, die von Literaten und Politikern zitiert werden. Die ihm einen Pulitzer-Preis eingebracht haben und einen Platz auf der langen Vorschlagsliste für den Literatur-Nobelpreis. Und er singt, inzwischen mit Mundharmonika in der Hand, „Things Have Changed“. Aber natürlich ändert sich nichts mehr bei Bob Dylan. Allenfalls die Abfolge der Songs, die er für jedes Konzert variiert.
Der Sound, der über den ehemaligen Exerzierplatz weht, ist bestens. Fast ein bisschen zu viel der Zimmerlautstärke. Friedensbewegte Alt-68er stehen Schulter an Schulter mit hippen Mitte-Kids und wippen zu einem vorwärtspolternden „Tangled Up In Blue“. Das klingt alles wie aus einem Guss, wie der Blues- und Country-Nährboden, auf dem der Rock’n’Roll vor bald 60 Jahren gedeihen konnte.
Neuere Songs wie „Cry A While“ von 2001 oder „The Levee’s Gonna Break“ von 2006 wechseln mit Klassikern. Dylan, der die Sonnenbrille inzwischen gegen einen breitkrempigen Strohhut getauscht hat weiß, was er seinen Fans schuldig ist. „Desolation Row“, „Highway 61 Revisited” und „Simple Twist of Fate“ spielt er in Berlin. Und natürlich gehören auch „Ballad Of A Thin Man” und „Like A Rolling Stone” zum abendlichen Programm. Großartige Musiker formen die Dylan-Lieder in treibenden, stampfenden, swingenden Arrangements. Man kennt das und weiß es zu schätzen. Der Chef sagt sie nicht ohne Stolz am Ende der Reihe nach persönlich an. Die Gitarristen Charlie Sexton und Stu Kimball gehören dazu, Bassist Tony Garnier, Schlagzeuger George Recile ist dabei und Pedal-Steel-Gitarrist Donnie Herron.
Geradezu andächtig verfolgen die Besucher das Schauspiel. Manche reisen Dylan hinterher, um ihm beim nächsten Konzert, das er bereits Dienstag in Dresden gibt, erneut ganz nah sein zu können. Es ist die Begegnung mit einer Legende, die durch die professionelle Schlichtheit des Auftritts jedwede Mythenbildung relativiert. Solange Bob Dylan aufrecht stehen kann, solange wird er seine Lieder um die Welt tragen. Wenn es sein muss, auch noch mit Achtzig.
Der Regen hat längst eingesetzt, als die Show mit „All Along The Watchtower“ nach knapp zwei Stunden ihr Ende findet. Doch Dylan kehrt noch einmal zur Zugabe zurück. „Blowing In The Wind“ zerkeucht und zermalmt er zu einer fast unkenntlichen Fassung. Und gibt dem patinabesetzten Klassiker gerade dadurch neues Leben.