Sie sind Deutschlands erfolgreichste Rockgruppe. Auf dem neuen Album “Liebe ist für alle da“ geben Rammstein wie gewohnt den Kinderschreck. Morgenpost Online sprach mit ihrem Gitarrist Richard Kruspe über Pornos, nationale Symbole und das bald bevorstehende Ende der Band.
Schwarze Haare , schwere Ringe, schwarz umrandete Augen - Richard Kruspe sieht exakt so aus, wie man sich schon immer ein Rammstein-Mitglied vorgestellt hatte. Der 42-Jährige sitzt an einem großen Tisch in einem Raum der Plattenfirma Universal in Berlin, raucht und lächelt freundlich. Die Diskussion kann wieder losgehen: Sind Rammstein gefährliche Provokateure oder doch geniale Erschaffer ihres Gesamtkunstwerks?
Morgenpost Online: Herr Kruspe, die aktuelle Rammstein-Single "Pussy" ist auf Platz eins der deutschen Charts eingestiegen. Trotz eines Videos, das unzensiert nicht im Fernsehen gezeigt werden darf.
Richard Kruspe: Jede andere Band hätte gesagt: Einen Porno können wir nicht drehen, das wird ja nie im Musikfernsehen gezeigt. Ich habe gehört, dass es so innerhalb von zwei Wochen über zwei Millionen Menschen gesehen haben. Es gibt also auch andere Wege, man muss sich nicht immer verbiegen. "Pussy" ist sehr eigenständig im Gegensatz zu den anderen Songs auf dem Album. Unser Sänger Till hat den Text zunächst nur auf Englisch geschrieben und der war nach meinem Empfinden anfangs eher grenzwertig.
Morgenpost Online: Inhaltlich?
Kruspe: Ja, inhaltlich. Es war einfach zu viel. Es gibt einen gewissen Humor, den ich gut finde, aber es gibt auch Grenzen. Dann hat Till auf Bitten der Band die deutschen Strophen geschrieben. So bekam der Text einen humoristischen Einschlag, mit dem ich gut leben kann. Es ist nicht unbedingt das, was ich mit Rammstein definiere, aber Rammstein ist nun mal ein Mix aus sechs verschiedenen Leuten.
Morgenpost Online: Wer hatte denn eigentlich die Idee für das Pornovideo?
Kruspe: Wir haben den Regisseur Jonas Åkerlund angefragt. Er hat sich den Song angehört und nach drei Stunden eine E-Mail zurückgeschrieben: "Let's start a revolution, let's do a porn". In den Gesichtern der Bandmitglieder sah man nur ein breites Grinsen.
Morgenpost Online: Sie haben sich aber doublen lassen?
Kruspe: Tja, das ist die große Frage. Ist ja auch egal. Es war eine schöne Herausforderung. Ich dachte immer, das Pornogeschäft sei dreckig und kalt, aber das ist es überhaupt nicht. Alle Leute da waren ausgesprochen freundlich und sehr zuvorkommend.
Morgenpost Online: Der Text ist ja nicht nicht besonders freundlich und zuvorkommend.
Kruspe: Zum Text kann und will ich nichts sagen. Ich bin nicht der Textschreiber.
Morgenpost Online: Aber Sie sagten ja vorhin, die erste Textversion von "Pussy" war Ihnen etwas zu viel.
Kruspe: Nein, das war mir nicht zu viel. Es war mir einfach zu platt. Mit den deutschen Strophen hat es einen gewissen Humor bekommen, den ich mittragen kann.
Morgenpost Online: Es heißt auch, dass dieser Text als Kritik an deutschen Sextouristen zu verstehen sei.
Kruspe: Wenn Sie das so sehen.
Morgenpost Online: Ich sehe es nicht so. Aber können Sie mir sagen, wie Ihr Verständnis des Textes ist?
Kruspe: Für mich ist es ein Partysong, nicht mehr und nicht weniger.
Morgenpost Online: Die Zeile "Steck Bratwurst in dein Sauerkraut" lässt sich betrunken hervorragend mitgrölen.
Kruspe: Ich finde das extrem lustig.
Morgenpost Online: Was ist denn mit denen, die diesen Humor nicht verstehen? Betrunkene Männerhorden auf dem Weg zum "Blitzkrieg mit dem Fleischgewehr"?
Kruspe: Es gibt in jeder Gesellschaft Aggressionen. Die werden verschieden ausgelebt. Meine Kinder, die sind 17 und 18, machen das nicht. Das Einzige, was ich tun kann, ist, in meinem kleinen Kreis darauf zu achten, dass die Dinge anders laufen. Aber wenn du als Künstler anfängst, über diese Sachen nachzudenken, fängst du an, dich selbst einzuschränken. Aber ich habe ein Problem damit, mich selbst zu zensieren. Ich bin in einem System aufgewachsen, in dem ich ständig zensiert wurde.
Morgenpost Online: Stellt sich nicht die Frage nach Verantwortung?
Kruspe: Ich bin keiner, der mit erhobenem Zeigefinger rausgeht und sagt: So müsst ihr das machen. Das haben wir nie gemacht.
Morgenpost Online: Aber sagen Sie nicht auch, dass Sie etwas kritisieren wollen, indem Sie gesellschaftliche Zustände überspitzt darstellen?
Kruspe: Ja, das kann man so sagen. Aber das heißt ja immer noch nicht, dass wir Leuten sagen, wie sie leben sollen. Jeder ist für sein Leben selbst verantwortlich. Jeder muss seine eigenen Erfahrungen machen, um daraus zu lernen. Wir sind nicht der Messias.
Morgenpost Online: Also ist Ihre Musik nur das Ausleben Ihrer eigenen Persönlichkeiten?
Kruspe: Beim Musikmachen entwickelt sich natürlich auch eine Eigendynamik, mit der man leben muss. Das sind Dinge, die kann man nicht beeinflussen.
Morgenpost Online: Das Cover Ihres Albums erinnert an Gemälde von Rembrandt.
Kruspe: Hieronymus Bosch ist da schon der bessere Vergleich. Das Cover ist in Zusammenarbeit mit einem spanischen Künstler entstanden, der einfach rumprobiert hat. Journalisten haben immer den Anspruch zu hinterfragen. Aber gute Dinge passieren aus einer gewissen Naivität heraus.
Morgenpost Online: Was ist denn das Metallzahnmonster da oben rechts auf dem Cover?
Kruspe: Das sollte so eine Art Alien sein. Ich habe es schon wieder vergessen. Es war ganz gut, was der Künstler sich dabei gedacht hat. So eine Art Alien, das den ganzen Konsum auffrisst. Sehr philosophisch, was er da aufgebaut hat.
Morgenpost Online: Und der nackten Frau, die auf dem Tisch liegt, werden die Hände abgehackt, oder?
Kruspe: Ja, aber das ist jetzt auch nicht wörtlich zu nehmen, in dem Sinne, dass da eine Frau massakriert wird.
Morgenpost Online: Sie sieht aus wie eine Opfergabe.
Kruspe: Ich sehe in dem Bild mehr die Abgründe dieser Welt.
Morgenpost Online: Neben der Frau auf dem Tisch stehen zwei Männer, die sich die Hose zumachen. Sind Sie einer davon?
Kruspe: Nein, das bin ich nicht.
Morgenpost Online: Das ist doch schon eine Vergewaltigungsszene, oder?
Kruspe: Wenn Sie das jetzt so sehen wollen. Ich finde Kunst immer dann interessant, wenn sie Dinge offen lässt.
Morgenpost Online: Kommen wir wieder zu ...
Kruspe: ... zu den schwierigen Fragen? Haben Sie nicht was anderes, über das wir sprechen können? Was Schönes? Über das Leben?
Morgenpost Online: Eine Frage zur Platte hätte ich noch.
Kruspe: Okay, noch eine.
Morgenpost Online: Sie bedienen sich ganz klar nationaler Symbolik. Sei es die Deutschlandflagge, das Pult, das an Bilder von Reden Hitlers erinnert ...
Kruspe: Ja, aber auf eine sehr humoristische Art. "I can't get laid in Germany" ist schon sehr lustig.
Morgenpost Online: Ich glaube ja auch nicht, dass Sie rechtsradikal sind.
Kruspe: Nein, dafür sind wir zu schlau (lacht).
Morgenpost Online: Warum hat Sex in Ihren Liedern immer mit Kampf und Krieg zu tun?
Kruspe: Für mich hat Sex immer mit Leidenschaft zu tun. Ich bin ein Romantiker. Auf der anderen Seite mag ich es dramatisch. Da müssten wir jetzt sehr weit in meine Kindheit zurückgehen, um zu schauen, was da möglicherweise schiefgelaufen ist. Ich glaube, dass Musiker mehr oder weniger unbewusst immer dramatisch und leidvoll Dinge rüberbringen. Bei Rammstein jedenfalls muss das so sein.
Morgenpost Online: Sind Sie gläubig?
Kruspe: Religiös? Nein. Ich glaube an eine Gerechtigkeit.
Morgenpost Online: Eine Gerechtigkeit, die aus dem Menschen heraus entsteht, oder eine von außen auferlegte?
Kruspe: Ich glaube, es gibt eine Idee. Manche sagen, das ist Gott. Bevor man Dinge tut oder bevor sie entstehen, gab es immer eine Idee, aus der heraus es auch ein Gerechtigkeitsempfinden gibt. Verstehen Sie? Ich glaube, dass es wichtig ist im Leben, für bestimmte Dinge bestraft zu werden. Ich glaube an das Schicksalsprinzip und das Karmaprinzip.
Morgenpost Online: Aber wenn es diese Bestrafung gibt, kommt auf Rammstein dann nicht eine saftige Strafe zu?
Kruspe: Wir sprechen ja nur das aus, was Realität oder was Teil der Gesellschaft ist. Früher hat die Kirche gesagt, was gut ist und was böse. Das ist doch Schwachsinn. Nur weil jemand eine sexuelle Ausrichtung hat, die von der Kirche als böse eingestuft wird, ist sie ja nicht gleich falsch. Im Gegenteil.
Morgenpost Online: Meint "Liebe ist für alle da" auch, dass jegliche Form von sexueller Liebe, auch die gesellschaftlich geächtete, ein Teil des Menschen ist?
Kruspe: "Liebe ist für alle da" ist ein sehr christlicher Gedanke. Natürlich muss man sich fragen, ist Liebe denn wirklich für alle da? Ich würde mir wünschen, dass es so ist. Können wir denen vergeben, die Liebe falsch verstanden haben? Darüber denke ich oft nach und scheitere und komme ein Stück weiter und gehe wieder zurück. Gerade, wenn man 40 wird. Da passiert ja einiges. Besonders bei Männern.
Morgenpost Online: Ja? Was denn?
Kruspe: Für mich gibt es zwei Möglichkeiten im Leben. Glücklich sein oder bedeutend sein. Und als Musiker versucht man natürlich ein bedeutendes Leben zu führen. Das große Problem bei mir ist, dass meine Sehnsucht nach Glück groß ist, aber die Kraft, die ich brauche, um kreativ zu sein, kommt aus dem Leiden. Auch wenn du nicht leidest, versuchst du das irgendwie in dein Leben einzubringen, um wieder schaffen zu können. Ein Kreislauf. Wenn ich glücklich wäre, wüsste ich, ich würde nie wieder schreiben. Ich habe versucht, das Glück im Außen zu finden. Und jetzt mit 40 kommt der Punkt, wo man mal im Inneren versucht, etwas zu finden, das glücklich macht.
Morgenpost Online: Können Sie nicht mittlerweile die kreativen Momente abpassen?
Kruspe: Früher hab ich es mit Drogen versucht. Ich habe extrem viel Kokain genommen. Du erreichst Dimensionen, in die du sonst nie gehen könntest. Du kannst acht Stunden lang eine Bassdrum editieren. Diese kreative Kraft kommt bei mir mittlerweile in verschiedenen Momenten. Sie schwirrt in der Luft und das Einzige, was du machen kannst, ist offen zu sein. Und dann ist der Moment wieder weg. Als wenn eine Wolke vorüberzieht, und du greifst nach ihr und wartest dann auf die nächste Wolke.
Morgenpost Online: Man hört, die aktuelle Platte könnte die letzte der Band sein. Löst sich Rammstein etwa auf?
Kruspe: Ich könnte mir im Moment nicht vorstellen, mit den Erfahrungen der letzten Platte noch mal zurück ins Studio zu gehen. Ich könnte mir aber vorstellen, weiter zu touren. Du bist in einer Band gefangen in einem Image. Das ist wie bei einer Soap-Opera, die niemals endet. Du hast deinen Charakter und den spielst du. Und dann diese Rammstein-Demokratie. Wir haben tagtäglich Diskussionen. Es wird über alles geredet und geredet. Und abgestimmt. Innerhalb einer Band hast du ja nicht diese Art sexueller Entladung, die du in einer Beziehung hättest. Es ist bei uns wie in einer langen Ehe. Man schläft einfach nicht mehr so gerne miteinander.
Rammstein: Liebe ist für alle da (Rammstein)