Deutschland scheint zu einer „mythenfreien Zone“ geworden zu sein. So jedenfalls formuliert es der Politikhistoriker Herfried Münkler in seinem jüngst erschienenen Buch „Die Deutschen und ihre Mythen“. Deren Missbrauch durch das NS-Regime habe sie als Quelle politischer Selbstvergewisserung des demokratischen Gemeinwesens diskreditiert.
Was Münkler beunruhigend findet: Einer Nation, die nicht über ein Reservoir mythologisch überhöhter geschichtlicher Erzählungen verfüge, in die sie ihre Erwartungen an Gegenwart und Zukunft projizieren und aus denen sie kollektive Zuversicht schöpfen könne, fehle in schwierigen Zeiten ein zentrales Element des Zusammenhalts.
Neuerdings zeigen die Deutschen jedoch wieder verstärktes Interesse an ihren traditionellen Nationalmythen. So jährt sich der Sieg des Cheruskerfürsten Arminius über die Legionen des römischen Statthalters Varus im „Teutoburger Wald“ – das Schlachtfeld wird heute in Kalkriese bei Osnabrück vermutet – zum 2000. Mal.
Aus diesem Anlass werden die Gestalt des vermeintlichen germanischen Freiheitskämpfers und die Bedeutung der Varus-Schlacht für den Verlauf der deutschen Geschichte neu beleuchtet – etwa in dem kürzlich ausgestrahlten ZDF-Zweiteiler „Kampf um Germanien“. Doch in dem Maße, in dem der einst so wirkungsmächtige Mythos unter die Lupe genommen wird, fällt er auseinander.
In Zweifel gerät so der Rang der Varus-Schlacht als ein welthistorischer Wendepunkt. Die verheerende Niederlage von 9. n. Chr. versetzte das römische Imperium zwar kurzfristig in einen Schockzustand. Doch auch danach unternahmen die Römer noch jahrelang Feldzüge in das Germanengebiet, um die rebellischen Stämme zur Räson zu bringen.
Dabei war es ihnen ursprünglich gar nicht um die Einverleibung des für sie unattraktiven Germanengebiets in das römische Imperium gegangen. Vielmehr sollten germanische Stämme von ständigen Raubzügen in Roms Provinz Gallien abgehalten werden.
Die Aussicht auf Beute war wohl auch das stärkste Motiv für die untereinander tief zerstrittenen germanischen Stämme, Arminius bei seinem Feldzug gegen die Römer zu folgen. Für ein Gebilde namens „Germanien“ kämpften sie jedenfalls nicht – dieser Begriff war eine Zuschreibung römische Historiker.
Über das weitere Verhalten Roms entschied schließlich eine nüchterne Kosten-Nutzen-Rechnung: Es war billiger, die Störenfriede durch eine Grenzbefestigung aus dem römischen Herrschaftsgebiet auszusperren, als sie mühevoll zu unterwerfen und in die römische Zivilisation zu integrieren.
Dabei stand das so entstandene „freie“ keineswegs für das ganze Germanien. Einzelne germanische Stämme blieben mit den Römern verbündet oder zogen die Umsiedlung in linksrheinisches römisches Gebiet vor. Diesen Weg wählte auch Segestes, der Cheruskerfürst und Gegenspieler des Arminius, mitsamt seinem Gefolge – und seiner schwangeren Tochter Thusnelda, die Arminius nach einer Entführung zu seiner Gattin gemacht hatte, die Segestes aber wieder zurückraubte.
Die „Freiheit“, die Arminius erkämpfte, bedeutete vor allem, dass ein großer Teil Germaniens von der zivilisatorischen Entwicklung Europas abgeschnitten und auf dem Stand einer Naturalwirtschaft ohne geschriebenes Recht blieb. Arminius, der abtrünnige römische Offizier, der in Rom erzogen worden war, unterband in seinem Herrschaftsgebiet sogar die Einfuhr von Olivenöl und Wein aus Italien.
Arminius war von der westlichen Zivilisation bereits durchdrungen gewesen und verwandelte die Vertrautheit mit ihr in Hass gegen sie: Darin ähnelt Arminius auf den ersten Blick modernen „Antiimperialisten“ wie Ho Chi Minh und Pol Pot.
Doch nichts deutet darauf hin, dass der Cheruskerführer bei seinem Kampf gegen Roms Vorherrschaft von einer frühen nationalen Einigungsidee und nicht nur von persönlichem Machtstreben motiviert war. Weil dieses der zersplitterten germanischen Clangesellschaft zu weit ging, wurde Arminius schließlich von eigenen Verwandten vergiftet.
Was also könnte der Cherusker den Deutschen von heute mythologisch mit auf den Weg geben? Seinen Aufstand gegen Rom zum Beginn der deutschen Nationalgeschichte zu stilisieren entbehrt jeder historischen Grundlage. Die Ursprünge unseres geschichtlichen und kulturellen Werdegangs sind viel mehr mit jenen germanischen Stämmen verbunden, die sich der römischen Zivilisation geöffnet haben.
Arminius zum Symbol nationalen Eigensinns aufzuwerten hieße aber, eine unheilvolle Traditionslinie in der deutschen Geistesgeschichte wieder zu beleben: die des zivilisationskritischen Affekts, der nationale Selbstbestimmung mit der Abschottung von den Errungenschaften der westlichen Moderne verwechselte. Zugespitzt gesagt, taugt Arminius heute am ehesten als Identifikationsfigur für radikale Globalisierungsgegner von links und rechts.
Gleichwohl könnte es in der gegenwärtigen Stimmung in Deutschland eine gewisse Empfänglichkeit für eine populäre Neudeutung des Hermann-Mythos geben. Anders als in früheren Jahrhunderten, da die Arminius-Figur für nationalistisch-imperialistische Ziele instrumentalisiert wurde, machen sich die Deutschen heute eher klein als groß, sehen sich gern als Spielball übergeordneter Mächte.
So ist die Vorstellung verbreitet, Deutschland sei eine Art Vasall des amerikanischen Imperiums, von dem es möglichst Distanz gewinnen sollte. Das drückt sich etwa in der Ansicht aus, wir seien in Afghanistan für einen Krieg der USA eingespannt worden, der uns eigentlich nichts angehe, oder wir seien unverschuldet Opfer der US-Finanzwirtschaft geworden, von der wir uns weitestgehend abkoppeln müssten, um uns ökonomisch krisenfest zu machen.
Sollte Arminius jedoch als Leitgestalt des Rückzugs in die nationale Selbstgenügsamkeit eine Renaissance erleben, wäre dies alles andere als eine zukunftsorientierte Wiederentdeckung der produktiven Kraft politischer Mythen.