Im Kino kam die Wahrheit wieder schonungslos ans Licht: Der Regisseur Todd Haynes bewies mit „I’m Not There“, dass sich Bob Dylan nicht als einzelne Person betrachten lässt, sondern nur als gespaltene Kunstfigur. Im Film traten sechs Schauspieler als Dylan auf, darunter auch Cate Blanchett. Die ätherische Australierin verkörperte den 24 Jahre jungen Weltstar bei seiner Europareise in den Sechzigerjahren. So verblüffend ähnlich, dass die Dylan-Forschung bald von der Cate-Blanchett-Phase sprechen wird.
Es war die Zeit des Rockmusik-Eklats, als Dylan zur elektrischen Gitarre griff und Folkloristen ihn des Hochverrats bezichtigten. Es war die Zeit, in der die Massenmedien wegen Pop plötzlich hysterisch wurden. Eine solche Zeit war das, am Vorabend des rätselhaften Unfalls, als Bob Dylan mit dem Motorrad vorübergehend verschwand.
Man hat die Bilder von der 1966er Tournee im Kopf. Sie stammen aus der Kamera von D.A. Pennebaker, aus dem Tourfilm „Don’t Look Back“. Cate Blanchett hat die Bilder nachgestellt. Hätte sie Barry Feinsteins Bildband „Real Moments“ vor dem Dreh studieren dürfen, wäre ihr Bob Dylan weniger mürrisch, abweisend und wirr geraten.
Barry Feinstein hatte 1962 in New York beim Impresario Albert Grossman einen dünnen, hochbegabten Kauz getroffen und sich mit ihm angefreundet. Dylan lungerte mit ihm später in Clubs herum, fuhr mit ihm durch Amerika und dichtete zu Feinsteins Fotos seltsame Erläuterungen. Aber selbst auf Feinsteins freundschaftlichen Nahaufnahmen tauchen die verschiedensten Bob Dylans auf. Man sieht den Künstler ernsthaft in der Ecke kauern mit der Zither auf dem Schoß und der Harmonika im Mund. Man sieht den amüsierten Folkdarsteller. Man sieht Dylan selbstzufrieden rauchen, während sich die Mädchen am beschlagenen Limousinenfenster drängeln. Man sieht ihn mit einer Marionette, die der Presse als Bob Dylans Über-Ich entgegentritt. Und man sieht einige Dylans mehr.
Es ist erstaunlich, dass noch unveröffentlichtes Material zum attraktiven Forschungsgegenstand Bob Dylan in privaten Schränken lagert. Geradezu sensationell ist, dass Bob Dylan jemals einer Kamera so blind vertraut hat. Ausgerechnet jener Dylan, den man von Cate Blanchett kennt. Mit Sonnenbrille, Vogelnestfrisur und Storchenbeinen. Der Unnahbare. Dieser Bob Dylan hatte durchaus seinen Spaß in Alteuropa 1966. Wenn ihn Folk-Spießer nicht gerade „Judas!“ riefen, Medienschaffende ihn belästigten oder ihm Köchinnen in England Fischeintopf vorsetzten.
Dafür stellte er sich brav, die Hände an der Hosennaht, zum Gruppenfoto zwischen Küchenfrauen auf. Er mischte sich in Liverpool unter verdreckte Straßenkinder oder plauderte in Birmingham mit einer Greisin. Feinstein knipste Dylan als verschüchterten Bewunderer mit Francoise Hardy beim Plattentauschen in Paris. Beim Herrenausstatter in London, wo der Musiker sich eitel seine Locken zupfte. Beim Konzert in Sheffield, wo an Dylans Schläfe eine Schweißperle herablief.
Man weiß nie: Wo fängt die Inszenierung an, wann hört sie auf? Wenn er sich unters Volk mischt? Wenn er die geschäftsreisenden Gecken in der Ersten Klasse mit Verachtung straft? Wenn er sich nach der Pressekonferenz an einer langen Tafel zwischen seinen Musikern die Zigarette ansteckt und sich selbst erleuchtet wie beim letzten Abendmahl?
Er hatte nichts dagegen, dass der Fotograf dabei war, wenn er Damen im Hotel empfing, die Dichterin aus Irland oder die gebildete Französin. „Schnell schlossen sie Freundschaft“, kommentiert der Mann, der seine Bilder mehr als 40 Jahre lang zurück hielt. Schon aus Dankbarkeit. Bob Dylan war damals ein junger Selbstdarsteller und die Popkultur noch unschuldig. Nicht dass man damals Frauen nur zum Freundschaft schließen vorgelassen hätte. Aber es gab noch Geheimnisse. Mit großer Freude stellte sich Bob Dylan für ein Foto auf, vor einem Wettbüro in Sheffield, das Geschäft hieß „L.S.D.“
Bob Dylan wirkt vor allem in Nordengland, trotz der Beatles, wie aus einem fernen, zukünftigen Dasein eingeflogen. Zwischen pittoresken Ziegelhäusern, ahnungslosen oder restlos außer sich geratenden Menschen. Auf den Straßen Liverpools ging Feinstein vor Bob Dylan in die Hocke und hielt ihn als Swiftschen Riesen für die Nachwelt fest. Das Film- und DVD-Bild für Martin Scorseses „No Direction Home“ entstand nicht im verlassenen Mittelwesten von Amerika, sondern am Fährhafen von Bristol. Barry Feinstein korrigiert heute auch eine volkstümliche Vorstellung von 1966, von einer entfesselten, rauschhaften Popkultur, die durch Europa tobte.
In den Fünfzigern, der Blütezeit des Filmgeschäfts, hatte sich Feinstein in den Studios von Hollywood verdingt. Er war auch dort kein bildgieriger Stiefellecker, er war unterwegs mit umgänglichen Schauspielern wie Steve McQueen, die auch lieber Motorrad fuhren, als zu arbeiten. Die Sechziger wurden zur Blütezeit der Popmusik, also ging Feinstein nach New York. Dort lichtete er Dylan auf einem Balkon ab für „The Time They Are A-Changin’“. 1968 nahm er für die Rolling Stones die vollgekritzelte Toilette auf, für „Beggars Banquet“. Janis Joplin lümmelte für „Pearl“ vergnügt im Sessel. Und George Harrison posierte für „All Things Must Pass“ mit Gartenzwergen.
1974 lud Bob Dylan seinen Lieblingsfotografen wieder zur Tournee ein. Ein paar Bilder sind dem Buch nun wie ein Nachtrag beigefügt. Die Musiker entstiegen riesenhaften Flugzeugen, Bob Dylan wandelte in seiner Freizeit durch Gemäldegalerien und traf sich mit Jimmy Carter. Barry Feinstein äußert sich zwar lobend über die Konzerte 1974. Doch man sieht den Bildern an, dass er dem offiziellen Wanderzirkus weniger abgewann als 1966.
Im November wird ein weiteres Buch erscheinen aus den Schrankinhalten Barry Feinsteins: „Hollywood Foto-Rhetoric: The Lost Manuscript“ mit (für Dylanologen unfassbar!) verschollenen Texten ihres Meisters. Feinstein hatte in den frühen Sechzigerjahren das Verblühen Hollywoods dokumentiert. Vergessene Requisiten, Kisten mit Kostümen, Studioruinen und Marlene Dietrich beim Begräbnis Gary Coopers. Dazu hatte Dylan völlig rätselhafte Verse beigesteuert, die das Buch damals verhinderten und heute umso interessanter wirken lassen.
Wie so manches, was man in den Sechzigern bedenkenlos verkramt oder entsorgt hat, nur Bob Dylan wusste da schon mehr. „Er wusste, dass ich ihn interessant aussehen lassen würde“, schreibt der 83-jährige Barry Feinstein heute. „Weil er interessant war.“
Barry Feinstein: Real Moments. Bob Dylan 1966-1974. Schwarzkopf & Schwarzkopf. 160 S., 49,90 Euro.