Wie viel Europa den Barbaren verdankt, das spürt man in Venedig ganz besonders. Hätten die Veneter im fünften Jahrhundert nicht vor den Hunnen und den Langobarden in die Sümpfe der Lagune flüchten müssen, gäbe es die auf Tausenden und Abertausenden Holzpfählen errichtete Stadt und also auch den Palazzo Grassi nicht, eines der imposantesten Gebäude am Canal grande.
Dort ist von heute an eine Ausstellung zu sehen, die einen gewaltigen historischen Bogen spannt. „Rom und die Barbaren“ erzählt ein Jahrtausend europäischer Geschichte von der Varusschlacht im Teutoburger Wald bis zur Begründung des mittelalterlichen Heiligen Römischen Reiches unter Otto dem Großen.
Endlich widerfährt auch den Hunnen Gerechtigkeit
Das Signum, unter dem diese – in den Eckdaten ihrer Abgrenzung dem deutschen Geschichtsbewusstsein nicht ohne weiteres geläufige – Epoche stand, war die Auseinandersetzung der römisch-lateinischen Zivilisation mit den Völkern des Nordens und Ostens, die von den Römern als nicht dem eigenen Kulturkreis angehörende Fremde Barbaren genannt wurden.
Wenn deren Beitrag für die Entstehung des modernen Europas durch diese Ausstellung verstärkt ins europäische Geschichtsbewusstsein gehoben werden soll, dann wirkt die Vehemenz, mit der Kurator Jean-Jacques Aillagon die Botschaft vorträgt, aus deutscher Sicht, in der die griechisch-römische Antike ohnehin nie unangefochten das kulturelle Maß aller Dinge war, ein bisschen verwunderlich. Für ein von römisch-gallischer Latinität geprägtes Publikum aber scheint eine solche Betrachtungsweise durchaus nicht selbstverständlich zu sein. Zu oft, sagt Aillagon, ein Lothringer und also mit romanisch-germanischen Grenzfragen bestens vertraut, würden die griechischen, römischen und jüdisch-christlichen Wurzeln Europas beschworen, seine „barbarischen“ Ursprünge aber vergessen.
Nun also widerfährt den Wandalen und Goten, den Langobarden und Franken, ja sogar den Hunnen, deren Drang nach Westen die große europäische Völkerwanderung ja auslöste, im Palazzo Grassi historische Gerechtigkeit. Was wäre, so ließe sich der untergründige Aktualitätsbezug dieser Schau formulieren, Europa ohne seine Migranten. Als Festung der griechisch-römischen Kultur überlebte das Römische Reich kaum die ersten drei Jahrhunderte des Jahrtausends. Dann begannen die neuen Staatsbildungen der Einwanderer, die allerdings ohne den Fundus dieser Kultur nie auskamen.
Ausstellungsästhetisch regiert konservativer Purismus
So viel gut gemeinte Pädagogik darf sein. Sie beherrscht aber, glücklicher Weise, diese Ausstellung nicht. Die alles beherrschende Energie im Palazzo Grassi ist unverkennbar der Ehrgeiz, eine Schau der Superlative zu zeigen und zu beweisen, dass sich die Museen Europas freigiebig öffnen und kostbarste Schätze auf die Reise schicken, wenn Grassi-Präsident Francois Pinault, französischer Unternehmer und Milliardär, ruft.
2005 hatte er nach dem Tod Gianni Agnellis den Palazzo Grassi übernommen, von dem japanischen Architekten Tadao Ando renovieren lassen und bisher vor allem als Bühne für seine eigene riesige Sammlung zeitgenössischer Kunst genutzt. Die soll an der Punta della Dogana jetzt ein eigenes Haus bekommen. „Rom und die Barbaren“ knüpft an die großen kulturgeschichtlichen Ausstellungen zum Beispiel über die Kelten oder die Etrusker an, die in der Ära Agnelli im Palazzo zu sehen waren.
Dem Besucher wird einiges abverlangt. Nichts wird ihm leicht gemacht. Ausstellungsästhetisch und -technisch verfolgt Aillagon, der auch schon einmal Direktor des Centre Pompidou und französischer Kulturminister war und sich mit „Rom und die Barbaren“ aus der Direktorenriege des Palazzo Grassi verabschiedet, einen konservativen Purismus, der ganz auf die Wirkung der Exponate vertraut.
Die Skelette der Varus-Legion in Öl gemalt
Der Besucher kann sich mit einem schmalen Ausstellungsführer (dessen deutsche Übersetzung katastrophale Fehler enthält, die Varusschlacht etwa findet im 9. Jahrhundert und nicht im Jahr neun statt) und an einigen Hörstationen grob orientieren. Die 31 Ausstellungskapitel ergeben einen chronologischen Pfad durch das Jahrtausend.
Aber den Zugang zu den fast 2000 Objekten aus annähernd 200 Museen in 24 Ländern muss der Besucher sich durch geduldiges Schauen selbst suchen. Eine historische Ausstellung sei kein Buch, begründet Aillagon den Verzicht auf Texttafeln und jegliches Multimediaangebot. Die historischen Objekte müssten selbst zum Sprechen gebracht werden. Dass das allerdings nicht unter Umgehung jahrhundertelanger Geschichtsschreibung und -deutung möglich ist, zeigt die Ausstellung selbst mit einer Reihe von Historiengemälden aus dem 19. Jahrhundert, die den römisch-barbarischen Gegensatz im Zeitalter der modernen Nationalismen propagandistisch ausschlachteten.
Ein geradezu blutrünstiges Beispiel dafür ist Lionel Royers Germanicus-Bild, das den römischen Feldherren in feurig rotem Mantel Rache schwörend vor den Skeletten der Varus-Legionäre zeigt – ein französischer Bildkommentar zum verlorenen Krieg von 1870/71.
Die Römer mussten mit den Barbaren Bündnisse schließen
Mit einem überwältigenden Beispiel für Bildpropaganda aus römischer Zeit wird der Besucher empfangen. Der Sarkophag von Portonaccio zeigt mit Schwindel erregender bildhauerischer Virtuosität in mehreren Bildebenen einen Kampf zwischen Römern und Barbaren, ein wahres Gemetzel, bei dem gehauen, gestochen, getötet und massakriert wird. Natürlich sind die Barbaren die Unterlegenen. Diejenigen, die überleben, unterwerfen sich und gehen in Gefangenschaft. Das Bild erzählt von dem Traum, die Pax Romana durch Unterwerfung der Welt zu sichern.
Bald konnte sich das Imperium aber nur noch durch Bündnisse mit Barbaren behaupten. Die römische Militärmacht wurde immer mehr zu einer germanischen. Der Kaiser Honorius, den Jean-Paul Laurens 1880 als neunjährigen Knaben bei der Thronbesteigung malte, war schon ganz auf den germanisch-römischen Feldherren Stilicho angewiesen. Der ratlos blickende Knabe im purpurnen Ornat, der Schwert und Siegesgöttin kaum halten kann, dient in der Ausstellungsinszenierung als effektvoller Fluchtpunkt. Er markiert den historischen Moment der endgültigen Erschöpfung des Weströmischen Reiches.
Eine Überfülle von Exponaten belegt die wechselseitige römisch-germanische Durchdringung. In den Gräbern römischer Offiziere finden sich Fibeln und Schnallen mit germanischen Motiven. Der Frankenkönig Childerich ließ sich wie ein germanischer Fürst begraben mit Waffen und Schmuck, aber auch mit purpurnem Mantel und anderen Insignien römischer Macht.
Verfall und Zerstörung werden als Themen ausgespart
Was von dem legendären Grabschatz des Childerich, der 1831 aus dem Münzkabinett der französischen Könige gestohlen wurde, übrig ist, wird in der französischen Nationalbibliothek als nationales Heiligtum der Franzosen aufbewahrt und nun, eine Sensation, außerhalb von Paris gezeigt. Andere Schätze haben für den Palazzo Grassi überhaupt zum ersten Mal den Ort verlassen, an dem sie gehütet werden: so der Theoderich-Schrein, ein Prachtstück merowingischer Goldschmiedekunst, aus der schweizerischen Abtei Saint-Maurice d'Agaune.
Das alles macht staunen und ergriffen. Doch nach Dutzenden von Fibeln, Schwertern, Lanzenspitzen, Münzschätzen tritt Ermüdung ein. Leicht kann es dann passieren, dass man wirklich spektakuläre Exponate übersieht, weil man nicht zu ihnen hin geleitet wird. Selten ist wohl ein so riesiger historischer Zeitraum so dicht mit Originalexponaten veranschaulicht worden.
Diese Verdichtung, die immer wieder von neuem die Reibung und wechselseitige Durchdringung der Kulturen belegt, birgt allerdings auch die Gefahr, ein allzu positives Bild dieser Epoche zu vermitteln. Verfall, Niedergang, Zerstörung, Verlust kommen in diesem Parcours nicht vor. Aber auch sie gehören zum Antlitz dieses Jahrtausends. Es heißt nicht, in die Nationalideologien des 19. Jahrhunderts zurück zu fallen, wenn man daran erinnert.
Die Ausstellung „Rom und die Barbaren“ ist bis Ende Juli in Venedig zu sehen und vom 22. August an in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik in Bonn. Der umfangreiche Katalog wird auch auf Deutsch erscheinen.