Wie viel Öffentlichkeit darf sein? Und wie viel muss sein? Auf der Bloggerkonferenz “re:publica“ wurde über die Zukunft der digitalen Kommunikation diskutiert. Die Deutschen sind dabei weniger euphorisch, wie der amerikanische Internet-Guru Jeff Jarvis beobachtete. Er argumentierte mit FKK-Stränden und Saunen.

Während drinnen über Wert und Schutz privater Daten gesprochen wird, lässt sich draußen vor dem Friedrichstadtpalast die Realität beobachten. Ein junges Mädchen hockt an einer Mauer, neben ihr die Schultasche. Ihr Telefon klingelt.

Das Mädchen schaut aufs Display, wer sie zu erreichen versucht, sie blickt reserviert, nimmt aber an. Das erste, was die junge Mediennutzerin der Anruferin entgegenschleudert klingt sehr empört: „Mama, du hast auf ,Unbekannter Anrufer’ umgestellt.“

So etwas geht heutzutage nicht mehr. Wer seine Tochter anruft, kündigt sich bitteschön mit seinem Namen an. Offenheit ist das Normale. Sich hinter der Maske eines Unbekannten zu verstecken, nein, das ist degoutant und das Gegenteil von Privatheit.

Damit ist das Problem und Lieblingsthema der diesjährigen Bloggerkonferenz „re:publica“ umrissen. Wie viel Öffentlichkeit darf sein, muss sein? Kann und soll man bevorzugt junge Leute davon abhalten, alles von sich im Internet preiszugeben? Die digitale Schwarmintelligenz hat in einer Art Rausch den herkömmlichen Begriff von Privatheit aufgelöst.

Teenager nutzen die technischen Möglichkeiten, um sich möglichst vollständig darzustellen. Das Mädchen, das seine Mutter am Handy erkennen will, bevor sie den Anruf annimmt, ist nur ein winziges Detail. So ist eine Art Kulturkampf entstanden, der auf zahlreichen Feldern ausgefochten wird.

Es geht um Daten, Bilder, Gewohnheiten. Um Selbstdarstellung, die ganz selbstverständlicher Teil der Identitätsbildung ist – was Ältere und Netzkritiker weiterhin schockiert. Die Hoheit über diesen Stoff geben die Internetnutzer ab, oft mit großem Erfolg. Auf einer Leinwand wurde mit leicht gebremstem Stolz die Facebook-Gruppe „Ja, ich war betrunken, als dieses Foto gemacht wurde“ gezeigt. Sie hat allerdings erst 66 Mitglieder, Frauen und Männer gemischt.

Dass Facebook-Gründer Mark Zuckerberg Privatheit die Aktualität und Modernität abgesprochen hat und Verbraucherministerin Aigner zum Widerspruch aufgestanden ist, illustriert den Konflikt. In Deutschland ist Netzkritik Teil des Mainstreams geworden, sagt der holländische Netzaktivist Geert Lovink und verweist auf Frank Schirrmacher. Im Rest der Welt sei das aber anders.

Auch der amerikanische Internet-Guru Jeff Jarvis hat für viele Bedenken aus Europa nur Spott übrig. Jarvis wandert auf der Bühne der „re:publica“ hin und her wie ein Einpeitscher. Der 55-Jährige zeigt die kulturellen Unterschiede auf recht drastische Art.

Deutsche hätten riesige Bedenken, wenn Google öffentlich Plätze und Straßen fotografiert, aber keinerlei Scheu, an FKK-Strände zu gehen oder in gemischte Saunen. Amerikaner würde letzteres Entsetzensröte ins Gesicht treiben. „Private parts“ sind absolut privat; mit allem anderen darf man freizügig sein. Es ist trotzdem recht häufig von männlichen Geschlechtsteilen die Rede.

Jarvis sieht eine neue Konstituierung von Öffentlichkeit im Netz. „Wir sind die Öffentlichkeit“, ruft er leidenschaftlich und zählt die Erfolge von Internetgemeinden auf. Das ist nicht neu, doch seine Emphase steckt das Publikum an. Auch digitale Bären lassen sich gerne Honig um den Mund schmieren.

Er selbst hat seine Krebserkrankung über seinen Blog bekannt gegeben und nur gute Erfahrungen gemacht. Wenn die wesentliche Kommunikation über das Netz geschieht, wird alle Persönlichkeit zu Open-Source-Material, also frei verfügbar. Man braucht dazu nur auf die Gewohnheiten Jugendlicher zu schauen.

Jarvis zeigt noch ein Bild lauter Nackedeis und verkündet: „In der Gemeinschaft mit Nudisten ist niemand nackt.“ Skepsis gegenüber Firmen gilt ihm wenig, gegenüber Regierungen schon mehr. Die Googlekritiker, Datenschützer und Verteidiger der Privatheit sitzen zeitgleich übrigens in einem anderen, kleineren Raum. Aber Platz haben sie genug.

Am Ende kündigt Jarvis an, gleich ins Spa gegenüber zu gehen, und dort in der Sauna auf Gesprächspartner zu warten. Sogar der Türsteher weißt darauf hin, dass das Zugangsbändchen sauna-tauglich ist, nämlich „wie ein All-inclusive-Bändchen“ aus dem Club-Urlaub.

Sind Inhalte das wahre Ding der „re:publica“? Man kann skeptisch sein, trotz fulminanter Vorträge wie der des Psychologen Peter Kruse, der der Gemeinde mit Systemtheorie viel Mut zuspricht. Schnell wachsende Netzwerke könne man nicht beschneiden, nur abschalten, ruft er. Das immer noch rasant anwachsende Internet sei bei künftigen Machtverteilungen nicht mehr wegzudenken. Kruse zitiert einen Twittereintrag: „Ihr werdet euch noch wünschen, wir wären politikverdrossen.“

Doch geht es dem Publikum, all den hoffnungsfroh engagierten jungen Menschen, in den drei tollen Tagen um Technik, um Vernetzung. Um die Leidenschaft, sich über Geräte zu definieren. Deshalb steht und fällt der Sexappeal der Veranstaltung auch mit der Übertragungsrate. Morgens verkündet die Webseite noch: „Achtung bitte, wir haben WLAN. Soeben ausprobiert.“ (Es geht um drahtlosen Internetzugang.) Im Saal dann eine kleine Enttäuschung, bei manchen Telefonen werden nur zwei Balken angezeigt, bei anderen nur einer. Die These, dass das Netz sich vom Archivmedium zum Livemedium wandelt, ist enorm situationsabhängig.

Aktuellen Studien zufolge verengt sich das Interessenspektrum Jugendlicher durch den Informations-Überschuss auf die Kommunikationsmittel selbst. Man redet im Internet über das Internet, am Handy über Handys oder schimpft im sozialen Netzwerk über die Telefongesellschaften. Viele Twitter-Einträge der „re.publica“ beschäftigen sich mit den Übertragungsbedingungen.

„Das Netz war schon besser“, raunt ein Mann mit Kaffeetasse in der Hand. In der Kalkscheune sitzt im zweiten Stock Verena (24) aus Braunschweig. Was sie hier macht? „Oh, ich versuche eigentlich nur einen Netzwerkzugang zu finden.“ Sie ist nicht alleine. Überall stecken die Leute Laptops zusammen so wie Verliebte die Köpfe, und dann wird ausgetauscht, was das Zeug hält. Alles andere ist uncooles Zeugs.

Die Technik selbst fördert ein wahnwitziges Nerdtum. Niemand kann das besser erklären als die Schriftstellerin Kathrin Passig. Ihr Vortrag heißt „Wie man Leuten nichts beibringt“, sie beschäftigt sich mit Beispielen aus der Computerszene. Zunächst aber sind da genau die kleinen Alltagssorgen, über die sie sprechen will. Ihre Präsentationsoberfläche auf dem Laptop will nicht so, wie Passig will.

Sie wiegt den Kopf, drückt, seufzt. Dann: „Kann jemand helfen?“ Ein Punk mit grünem Irokesenschnitt steht auf, schaut auf den Schirm, hilft. Zwei Minuten später ist noch etwas. „Kann jemand meinen Cursor finden?“ Der Zeiger ist vom Schirm verschwunden. Der Punk kommt erneut, sagt: „Du musst das Presenter-Display customizen. Hab ich selbst schon tausend Mal gemacht.“

Eine Erklärung des Satzes wäre nun verschwendete Zeit. Jedenfalls ist der Punk höflich, nicht überheblich. Und er hilft. Genau darüber spricht Passig. Im Umgang mit Computern und dem Internet neigen sehr viele Menschen, besonders Männer, dazu, Probleme zu verschlimmern statt zu lösen. Digitalfreunde mutieren oft zu überzeugten Lebensverbesserern, wo sie nur einen Programmtrick ausführen sollen. Der momentane Netz-Enthusiasmus führt zu Kardinalsfehlern im menschlichen Umgang. Aber Computer sind noch keine Religion.

Meist stehen ganz andere Motivationen im Raum. Das in der Szene verbreitete „Topcheckertum“ hat gewöhnlich die Ursache, dass vermeintliche Fachleute ihr Wissen gar nicht hergeben wollen, sondern sich zu Geheimwissenden stilisieren, die auf Anerkennung und Monetarisierung hoffen, also auf Jobs und Geld. Und dann ist da noch etwas, das Passig deutlich unter „Fickwunschverdacht“ subsumiert, der bei PC-Beratungen eine Rolle spielt. Wer freimütig seinem Gegenüber zu viel Details der neuen Programmiersprache weitergibt, denkt vielleicht an etwas anders. „Embetted object“, ruft jemand. Die deutlich gelöste Heiterkeit im Raum zeigt, wie gut dies verstanden wird. War der Satz „Du musst das Presenter-Display customizen“ vielleicht Teil einer Inszenierung?

Jeff Jarvis ist am Mittwoch übrigens tatsächlich in die Sauna gegangen. Mehrere Besucher der „re:publica“ haben ihn dort aufgestöbert. Jarvis sprach auch ohne Kleider über Google und Wikileaks und die Vorteile von Netz-Communitys. Der Optimist unter den Nackten blieb sich treu. Blogger Jakuub, der von dem Saunagang berichtete, schlug vor, ein Sauna-Social-Media-Camp zu gründen, worauf Jarvis befand, dass man dazu mehr Frauen brauche. Damit rührte der Netzaktivist an ein gesellschaftliches Problem, das im Internet und der Bloggerszene insgesamt zu beobachten ist.