Es herrschten unruhige Zeiten in Germanien. Seit annähernd 50 Jahren hielten die Römer die Gebiete links des Rheins besetzt, am rechten Ufer begann die Germania magna, ein Urwald, bewohnt von Teufeln. Das jedenfalls dachten die römischen Legionäre über das freie Germanien, das sich Rom nicht beugen wollte. Zwar pflanzten die Römer Lager wie jenes von Haltern an der Lippe in das Sumpfland. Richtig Fuß fassten sie allerdings nie.
Als der Statthalter Varus mit drei Legionen und einem gewaltigen Tross 9 n.Chr. durch die Wälder marschierte, überfielen ihn die Germanen unter der Führung eines Mannes namens Arminius. Der Häuptling der Cherusker hatte in Rom das Kriegshandwerk gelernt und kannte das Militär und die Taktik der Römer genau. Drei Tage tobte der Kampf, dann siegten die Germanen mit ihrer Guerillataktik. Varus stürzte sich ins Schwert.
Wie war das möglich? Die Germanen waren schlecht ausgerüstete Bauern, nur die Elite trug teure Schwerter oder kämpfte zu Pferde. Der durchschnittliche Germane warf mit Holzspeeren – schon der Name leitete sich vom Ger, dem Speer, ab.
Auf der anderen Seite: die Römer; schwer gepanzerte Kämpfer in Eisen, gedrillt auf gefürchtete Manöver wie den Testudo, die Schildkröte, bei der die Soldaten eine Festung aus Schilden um ihre Einheit bildeten. Gegen diesen Goliath konnte der germanische David eigentlich keine offene Feldschlacht gewinnen.
Erklärungsversuche kommen aus Kalkriese. Bei dem Ort nördlich von Osnabrück könnte die Schlacht geschlagen worden sein. Hier entdeckten der Hobbyarchäologe und britische Offizier Tony Clunn 1987 Reste eines antiken Schlachtfeldes
Arminius wäre gut beraten gewesen, hier zuzuschlagen. An Ort und Stelle verengte sich der Weg, den die Römer auf ihrem Marsch von der Weser zum Rhein nahmen. Rechts ein Moor, links das Wiehengebirge. Geordnetes Marschieren war unmöglich.
Die Truppe wand sich durch den Engpass – eine Schlange von 14 Kilometern Länge, so schätzt Althistoriker Johannes Norkus. Als Arminius zuschlug, hatte sich die größte Stärke der Römer, ihre Manövrierfähigkeit, in einem heillosen Durcheinander aufgelöst. Bevor die Nachricht vom Angriff an der Spitze der Kolonne das Ende des Zuges erreichte, mögen Stunden vergangen sein.
Überdies versanken die Legionäre im Schlamm. Der fatale Marsch soll im September stattgefunden haben, bei herbstlichem Wetter. Während die Germanen, wendig in ihren Leinenkitteln, mit dem aufgeweichten Boden keinerlei Probleme hatten, erging es den Römern schlecht. Ein voll ausgerüsteter Legionär trug bis zu 30 Kilogramm Material am Körper und blieb damit in dem sumpfigen Gebiet unbeweglich. Eine Zielscheibe für die Holzspeere der Angreifer.
Die Schlacht vor 2000 Jahren kostete mehr als 20.000 Menschen das Leben, den römischen Kaiser Augustus schmerzte der Sieg der Germanen. Rom verlor drei Legionen, und das war teuer. Keineswegs aber nahmen die Römer die Beine in die Hand und flohen vor den Barbaren auf die andere Rheinseite.
Eher widerwillig zogen sich die Geschlagenen zurück. Zwar wurde das Römerlager Haltern im Jahr der Schlacht aufgegeben, aber die Römer packten sorgfältig zusammen und planten möglicherweise sogar die Rückkehr an die Lippe. Das lassen Hortfunde vermuten, etwa ein Schatz mit dem Jahressold eines Legionärs oder eine Kiste mit 3.000 Geschützpfeilen.
Acht statt sechs Legionen
Schon ein Jahr nach der Niederlage ersetzte Augustus die Legionen am Rhein und verstärkte das Truppenkontingent. Wo zuvor sechs Legionen die Grenze gesichert hatten, standen nun acht im Feld – fast ein Drittel der römischen Armee drängte sich an der Rheingrenze zusammen. Strafexpeditionen führten die Römer bald wieder auf die rechte Rheinseite. 13 und 16 n. Chr. verwüstete der Feldherr Germanicus Teile des Germanengebiets. Das Schlachten ging weiter.
Den wahren Beweggrund der Römer, hartnäckig am Krieg festzuhalten, entlarvt der römische Geschichtsschreiber Tacitus: „Krieg war zu dieser Zeit nur noch gegen die Germanen zu führen, mehr um die Schande zu tilgen, die mit dem Verlust des Heeres unter Quinctilius Varus verbunden war, als aus dem Bestreben, das Reich zu erweitern, oder wegen der Aussicht auf entsprechenden Gewinn.“
Der Krieg war teuer, die Erfolge spärlich. Vermutlich wussten die Strategen vom Tiber längst, dass hier nichts zu gewinnen war. Den Schlussstrich zogen römischer Senat und römischer Kaiser 17 n. Chr.. Der neue Kaiser Tiberius akzeptierte die Rheingrenze.
Zwischen leeren Kriegskassen, diplomatischen Fallstricken und politischen Winkelzügen war die Niederlage des Varus für die Römer zwar ein schwerer Schlag, aber nur einer von vielen. Dass die Kämpfe um Germanien mit der Varusschlacht keineswegs endeten, sondern noch acht Jahre andauerten, erzählen viele Quellen nicht.
Besonders seit dem 19. Jahrhundert gilt die Varusschlacht als Endpunkt der römischen Expansion im Norden, als Befreiungsschlag der unterdrückten Germanen und als „deutsches Troja, unser Urknall“, wie es Hans Ottomeyer, Direktor des Deutschen Historischen Museums in Berlin, noch 2006 etikettierte.
Drei Ausstellungen, in Haltern, Kalkriese und Detmold, erinnern im Frühjahr an den 2000. Jahrestag des Ereignisses; Jubelveranstaltungen, so haben es die Ausstellungsmacher angekündigt, sollen es aber nicht werden.
Von einem Mythos war in der Antike ohnehin keine Rede, der entstand im 15. Jahrhundert. Zuvor erinnerte sich niemand an die Schlacht, die Germanen hatten sie mangels Schreibkultur nicht festgehalten, die Texte der Römer waren in der Schriftlosigkeit des Frühmittelalters verloren. Aber nicht für immer.
Als die Menschen der Renaissance antike Kultur wieder zu schätzen lernten, tauchten viele Pergamente und Codices – die Vorläufer der Bücher – wieder auf. Darunter befanden sich die Geschichtsbände des Gelehrten Tacitus, und was der über jene denkwürdige Schlacht auf germanischem Boden zu berichten wusste, ließ die Herzen mancher Deutscher höherschlagen.
Von einem Dichter wurde Arminius erweckt
Ein dichtender Ritter erweckte Arminius zu neuem Leben. Ulrich von Hutten kämpfte und schrieb zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Im Arminius erkannte Hutten, was seinen Landsleuten zu jener Zeit fehlte: einen deutschen Helden. Die Franzosen verehrten Vercingetorix, den unbeugsamen Gallierfürsten, die Böhmen Johannes Hus und den Heiligen Wenzel, die Schweizer konnten Wilhelm Tell vorweisen. Ihnen stellte Ulrich von Hutten jenen Cheruskerfürsten an die Seite, der so nach 1500 Jahren literarisch auferstand. Arminius zog triumphierend in die deutsche Kulturgeschichte der Neuzeit ein.
Der Stoff wurde populär, das Heldenpathos packte die Literaten. Flink schrieb Daniel Caspar von Lohenstein 1689 ein Mammutwerk von 3280 Druckseiten – hingegen nimmt die historische Schilderung der Varusschlacht in den antiken Texten nur ein halbes Dutzend Absätze ein. Johan Elias Schlegel verfasste 1743 ein Trauerspiel, Justus Möser schrieb eins 1749, Friedrich Gottlieb Klopstock ging 1752 noch einen Schritt weiter und erfand zur ohnehin in Teilen erdichteten Arminiusgeschichte auch noch die passende Versform.
Die „Bardiete“ sollte auf die Schlachtgesänge der germanischen Barden zurückgehen. Einer historischen Vorlage konnte sich Klopstock zwar nicht bedienen, doch der Effekt gab dem Autor recht: 1771 erinnert sich der Göttinger Dichter Christian Graf zu Stolberg an eine Bardietenlesung im Eichenhain, bei der er „so lebhaft und ganz gefühlt“ habe „ein Deutscher zu sein“.
Seit dem 16. Jahrhundert läuft zudem ein nicht enden wollender Wissenschaftskrimi: 700 Orte sind bis heute als Schlachtfeld identifiziert worden – wenigstens 699 der Vorschläge müssen falsch sein. Das südlichste der mutmaßlichen Schlachtfelder liegt bei Augsburg, das nördlichste an der Nordseeküste. Als Erfolg versprechend galt seit dem 18. Jahrhundert der Teutoburger Wald, ein Höhenzug an der Grenze des Münsterlands.
Tatsächlich nennt Tacitus den „teutoburgiensis saltus“ als Ort der Varusschlacht, allerdings erhielt der Teutoburger Wald seinen Namen erst 1672 durch den Paderborner Fürstbischof Ferdinand von Fürstenberg. Der Geistliche hatte Tacitus gelesen, in dem nahen Höhenzug den geschichtsträchtigen Ort wiedererkannt und diesen kurzerhand neu taufen lassen.
Für eine Sensation sorgte die Entdeckung von römischem Militärschrott und Gruben mit Menschenknochen im niedersächsischen Ort Kalkriese. Viele Indizien sprechen dafür, dass die Varusschlacht dort geschlagen wurde. Immerhin ist Kalkriese der einzige der 700 mutmaßlichen Schlachtorte, der archäologisches Material vorzuweisen hat.
Doch selbst damit kommt die Debatte nicht zum Ende. Kritiker der Kalkriese-Theorie halten entgegen, dass auch eine Schlacht des Germanicus auf Kalkrieser Boden Spuren hinterlassen haben könnte. Joseph Rottmann, Geschäftsführer des Museums und Parks Kalkriese: „Selbst wenn wir hier ein Schwert finden würden, das die Inschrift trägt ‚Ich gehöre dem Varus‘, wird es immer noch Zweifler geben, die fragen werden, ob Varus das Schwert auch persönlich an dieser Stelle verloren habe.“
Germanen erschlugen Arminius
Wie dem auch sei, den alten Germanen brachte der Sieg über Varus jedenfalls nicht die erhoffte Unabhängigkeit. Sie erschlugen Arminius zehn Jahre nach dessen Husarenstück. Seit die Römer fort waren, hatten die Stämme zwar ihre Freiheit genossen, wirtschaftlich aber hatte die Germania magna das Nachsehen.
Florierte der Handel zwischen Römern und Germanen zur Zeit des Varus noch, kamen nach der Schlacht keine Händler mehr zu den Stämmen und tauschten Luxusgüter wie gläserne Trinkhörner und Wein gegen Frauenhaar und Felle.
Derweil waren auf der linken Rheinseite aus römischen Lagern große Städte erwachsen, die Vorläufer von Nijmegen, Xanten, Köln, Bonn, Koblenz und Mainz. In den Mauern dieser Metropolen tobte das pralle Leben mit Brot, Spielen und Gesundheitsversorgung. Die Germanen auf der rechten Rheinseite schauten zu – der Ostblock der Antike.
Der Autor ist Archäologe und Wissenschaftsjournalist. Im Herbst erschien im Campus-Verlag sein Buch „Der Sturz des Römischen Adlers. 2000 Jahre Varusschlacht“.