Novemberpogrome 1938

Der Vatikan wusste vom "Befehl von oben"

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Sven Felix Kellerhoff

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Neue Quellen belegen es: Der katholischen Kirche lagen hintergründige Berichte über die Nazi-Hetze gegen die Juden vor. Der umstrittene Nuntius Cesare Orsenigo, ein diplomatischer Vertreter des Papstes, beschreibt die Novemberpogrome 1938 in Berlin präzise. Seine Wortwahl zeigt, dass er das Geschehen verurteilte.

„Die Zerstörungen begannen, wie auf Befehl, in der Nacht, unmittelbar auf die Nachricht vom Tode des jungen Diplomaten in Paris hin“, berichtete Nuntius Cesare Orsenigo am 15. November 1938 an den Vatikan. Der diplomatische Vertreter des Papstes in Berlin fuhr in seinem hochvertraulichen Bericht über die später als „Kristallnacht“ berüchtigt gewordenen Ereignisse fort:

Die blinde Rache der Massen spielte sich überall nach dem gleichen Muster ab: In der Nacht zertrümmerte man alle Schaufenster und setzte die Synagogen in Brand; tags darauf wurden die – jetzt schutzlosen – Geschäfte geplündert und die Waren, sogar die wertvollsten, in wildester Weise zerstört.“

Der Bericht, gerichtet an den zweiten Mann im Vatikan, Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli, ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Erst gegen Nachmittag des 10. November, nach einem Tag, an dem der Pöbel – von keinem Polizisten gehindert – seine barbarischsten Triebe befriedigt hatte, gab Minister Goebbels die Anordnung, einzuhalten, und bezeichnete die Vorfälle als Ausdruck des ,deutschen Volkszorns’. Dieses eine Wort genügte, die Ruhe wiederherzustellen.” Für Orsenigo war klar: „Dies alles lässt leicht ahnen, dass der Befehl oder die Erlaubnis zu den Ausschreitungen von sehr weit oben gekommen ist.“

Klarere Worte fand kaum ein anderer

Deutlicher haben sich auch die Berliner Diplomaten anderer Staaten in Berichten an ihre Regierungen kaum geäußert. Trotzdem hält sich in der Öffentlichkeit bis heute die Ansicht, die katholische Kirche habe durch ihr Schweigen zur Judenverfolgung in Nazi-Deutschland mitschuldig am Holocaust gemacht, wofür speziell der schwache Nuntius Orsenigo und sein Vorgänger Pacelli, der ab 1939 als Papst Pius XII. amtierte, verantwortlich gewesen seien.

Richtig ist an diesem Vorwurf, der wesentlich durch Rolf Hochhuths bewusst einseitiges Drama „Der Stellvertreter“ 1963 populär wurde, dass es nie eine ausdrückliche öffentliche Verurteilung der antisemitischen Politik des NS-Regimes durch den Vatikan gab.

Gestützt wird diese Kritik durch das ungeschickte Verhalten des Vatikans: Erst seit 2003 gibt es für ausgewiesene Wissenschaftler einen freien Zugang zu den diplomatischen Akten des heiligen Stuhls aus den Jahren bis 1939; die Archivalien der Amtszeit Pius XII. sind dagegen weiterhin unzugänglich. Gleichzeitig aber wird das schon seit 1965 laufende Seligsprechungsverfahren für den umstrittenen Papst weiter betrieben.

Orsenigos Bericht vom 15. November 1938 ist erst seit 2003 bekannt und bislang nur fragmentarisch publiziert; wissenschaftlich ediert wurde er bisher so wenig wie die geschätzt 3000 weiteren Berichte Orsenigos aus Deutschland zwischen 1930 und 1945.

Verwirrung um Rolle der katholischen Kirche

Hier sieht der Historiker Thomas Brechenmacher einen Hauptgrund für die Verwirrung um die Rolle der katholischen Kirche im Vorfeld des Holocaust: „Nur wer das Gesamtcorpus der Berichte zur Kenntnis nimmt, kann sehen, dass sich darin treffende und unzutreffende Urteile, wahre und falsche Informationen, psychologisch feinfühlige und ihr Ziel verfehlende Einschätzungen abwechseln. Eine feste Position gegenüber diesem Regime musste sich erst herausbilden.“

„Der Professor für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Potsdam ist überzeugt: „Auf der anderen Seite enthalten die Berichte Orsenigos Lagebeurteilungen von luzider Scharfsicht, die bezeugen, dass der Nuntius sukzessive lernte, den wahren Charakter des Nationalsozialismus zu verstehen und zu bewerten.“

Deshalb lobt Brechenmacher die „vorteilhafte Wirkung vollständig edierter Quellencorpora für die Urteilskraft des Historikers“ und arbeitet im Auftrag des Deutschen Historischen Instituts Rom an einer Gesamtausgabe dieser Quelle als Voraussetzung für ein sachliches Urteil über Orsenigo und Pius XII. Der erste Jahrgang der Edition – 1933 – steht kurz vor dem Abschluss. Zeitgemäß wird sie vor allem im Internet veröffentlicht.

Tatsächlich spricht viel dafür, sich gerade bei diesem moralisch so aufgeladenen Thema von Hochhuths Polemik zu emanzipieren und lieber die vorhandenen Quellen möglichst vollständig sprechen zu lassen. Dieses Verfahren führt nämlich zu interessanten Einsichten.

Einerseits waren sich führende Katholiken wie der Münchner Kardinal Faulhaber durchaus bewusst, dass der Vatikan eigentlich gegen die Judenverfolgung öffentlich auftreten müsse; andererseits riet er im Gespräch mit einem vatikanischen Geheimgesandten Ende 1937, vorerst darauf zu verzichten, weil Hitler im Moment von dem Wunsch erfüllt sei, „mit der Kirche ein bisschen in Frieden zu leben“.

Es war kein Zufall, dass am Abend des 11. November 1938 ein Nazi-Mob Faulhabers Wohnung zu stürmen versuchte. Zuvor waren Plakate mit der Aufschrift „Gegen das Weltjudentum und seine schwarzen und roten Bundesgenossen!“ aufgehängt worden. Die Kapelle des Erzbischöflichen Palais wurde beschädigt, Glasfenster eingeworfen, bevor ein NS-Funktionär die Gewalt unterband: „Wir wollen dem Herren keine Waffe in die Hand geben!“

Vorwürfe gegen Goebbels

Nuntius Orsenigo berichtete am 15. November 1938 auch eine ungewöhnliche Begebenheit nach Rom: „Mit seiner Behauptung, die so genannte ,antisemitische Reaktion‘ sei ein ,Werk des deutschen Volkes‘ gewesen, hat Goebbels dem wahren und gesunden deutschen Volk, dem sicherlich die Mehrheit der Deutschen angehört, großes Unrecht getan. Ein 80-jähriger pensionierter protestantischer Superintendent ist auch in die Apostolische Nuntiatur gekommen, um gegen diesen Satz Goebbels’ Protest einzulegen.“ Ein Stück vertrauliche Ökumene also gegen die Verfolgung der Juden.

Wenige zeitgeschichtliche Themen sind bis heute so umkämpft wie die Haltung des Vatikans zum Judenmord. Deshalb sollte sich die Ansicht durchsetzen, dass historische Erkenntnis immer quellen- und nie meinungsbasiert sein sollte. Das bedeutet im Gegenzug, dass der Vatikan endlich alle Archive öffnen sollte – und das Seligsprechungsverfahren für Pius XII. bis auf weiteres aussetzen muss.