„Die Getriebenen“ von Robin Alexander ist Pflicht für alle, die glauben, Politik sei einfach, schreibt Hajo Schumacher.

Schon lange nicht mehr so tapfer gegen die Müdigkeit angelesen. Aber dieser Mix aus Proseminar und Krimi, Sittenbild und Enthülle, Geschichte, Porträts und Rätselspaß macht süchtig. „Die Getriebenen“ von „Welt“-Reporter Robin Alexander ist Pflicht für alle, die glauben, Politik sei einfach.

Minutiös arbeitet Alexander jenes surreale halbe Jahr zwischen Spätsommer 2015 und März 2016 auf, als Emotionen wallten, Wahlen kippten, Hoffnungen, Karrieren und Freundschaften endeten. Nie schauten die politischen Spitzenkräfte in derart viele Abgründe. Alexander hat der epidemischen Schnellmeinerei widerstanden und mühsam Details gesammelt bis hin zu vertraulichsten Kanzlerinnen-SMS. Allenthalben gaben Akteure der Flüchtlingskrise großzügig Auskunft; keiner scheint jene Tage bereits verdaut zu haben.

Ängste und Werte, Zaudern und Zittern, Eitel- und Bockigkeit, eiskaltes Tricksen und verwegenes Verhandeln – erst im Ernstfall werden alle Facetten des Ausdauersports Politik sichtbar. Da wurden Tausende Grenzschützer nach Bayern geschmuggelt, die CSU beriet ein zweites Kreuth, auf dem Hochseil wurde der Türkei-Deal eingefädelt – die vielen vertraulichen Einblicke entfalten ihre Wucht, weil Alexander weniger die Schuldfrage debattiert als vielmehr gelassen die Zwänge der oft irrational anmutenden Politikmaschine beschreibt, befeuert auch von sprunghaften Bürgern.

Wie handeln, wenn nur Widersprüche sicher sind?

Fortwährend bekommt der Leser die eigene emotionale Verwirrung jener Zeit gespiegelt, die Übermacht der Bilder, die Dynamik des polarisierten Gesinnungstaumels. Und quälend oft die Frage: Wie hättest du gehandelt, wenn nur Widersprüche sicher sind und das Resultat bestenfalls ein kleineres Übel?

Und, wer ist Gewinner? Ganz klar: Wolfgang Schäuble. Berlins weise Eule mit ihrem internationalen Netzwerk hat der Kanzlerin früh und präzise Risiken und Optionen aufgezeigt. Schäuble balanciert Druck und Loyalität, wo Seehofer überzieht. „Steht viel Wahres drin“, soll Angela Merkel im kleinen Kreis gesagt haben, obwohl sie nicht als Heldin wegkommt. Mehr Lob geht nicht.