Dort fragen Bartgeier nicht nach Glück. Liegen zwei Eier in ihrem Nest, müssen die Tierpfleger sich beeilen, das eine rauszuholen, sobald das andere angepickt wird. Denn alle älteren Bartgeier töten ihre jüngeren Geschwister. Kainismus heißt das Phänomen. Sollten das ältere Kind das noch nicht packen, helfen die Eltern nach. „Ich habe in meinem ersten Jahr im Tierpark ein Mal das zweite Ei liegen lassen, als das erste von innen angepickt wurde“, erzählt Tierpark-Kurator Martin Kaiser. Tags drauf war der Jungvogel geschlüpft – und das zweite Ei verschwunden. Komplett. Sogar die Schale war weg. Wer also glaubt, Bartgeier fräßen nur Aas, täuscht sich.
Sie vertilgen außer der eigenen, überzähligen Brut auch Landschildkröten. Wer eine Vorstellung entwickeln will, wie die sich dabei fühlen, der lese Therry Pratchetts Scheibenwelt-Roman „Einfach göttlich“. Der Raubvogel krallt sich die Schildkröte, erhebt sich in die Lüfte und lässt das Panzertier aus 50 und mehr Metern zu Boden fallen – auf das es knacke. Übrigens soll der griechische Tragödien-Dichter Aischylos im Jahr 456 vor Christus gestorben sein, als ihm so eine Schildkröte auf den Kopf knallte. Kein Wunder, dass Bartgeier auch „Knochenbrecher“ heißen. Sie sind Nahrungsspezialisten, die die Reste fressen, nachdem Löwen, Bären oder Hyänen sich am Kadaver gütlich getan haben.
Dann landen die Bartgeier in einiger Entfernung und laufen in Ruhe rüber. Ja, Geier gehen zu Fuß. Sie können das ganz gut, weil sie im Unterschied zu echten Greifvögeln wie Habichten oder Adlern kürzere Krallen haben. Sie haben übrigens auch einen roten Ring um ihre Augen, der auffällig leuchtet, wenn sie aufgeregt sind.
Nur Knochen fressen, reicht das aus? „Ja“, sagt Kaiser. Bartgeier lösen mit ihrer besonders scharfen Magensäure Knochen ganz auf und erhalten so Eiweiße, Fette, Mineralstoffe und Wasser. Außerdem stehen besagte Schildkröten und kleine, kranke Tiere auf dem Speiseplan – Geier gelten als Gesundheitspolizisten.
Als solcher versucht sich der diesjährige Berliner Nachwuchs künftig in den andalusischen Cazorla-Bergen um Jaén. Dorthin ist Kaiser im Mai mit ihm geflogen – was sonst – um ihn auszuwildern. Nachdem die Bartgeier in den Alpen vor fast hundert Jahren ausgerottet waren, kümmern sich Zoologen seit den 70er-Jahren um ihre Wiederansiedlung in Europa. Federführend ist eine Zuchtstation in Haringsee bei Wien, mit der Kaiser zusammen arbeitet. Das aktuelle Brutpaar kam 1998 aus Haringsee in den Tierpark, lebt in einer 500 Quadratmeter großen Voliere und bringt seit 2006 jährlich Nachwuchs.
Mit einer Flügelbreite von fast 2,90 Metern kann ein Bartgeier knapp quer unter einem Drei-Meter-Sprungbrett durchfliegen und zählt zu den größten Vögeln in Europa. Aber nicht zu den schwersten, das sind die Großtrappen. Bartgeier sind so metrosexuell wie David Beckham. „Sie sind die einzigen Vögel, die sich schminken“, sagt Kaiser. Die Kunst beherrschen schon die Jungtiere, ohne dass es ihnen einer vormachen müsste. Sie baden in rostigem Wasser – in Wasser, das Eisenoxide enthält – das die weißen Federn rot einfärbt. Warum sie das machen, dazu gibt es viele Theorien – Parasitenbekämpfung ist eine davon –, aber Kaiser hält sie alle nicht für schlüssig. Er glaubt, am Ende könnte es sein wie bei den Frauen der Spezies homo sapiens: Sie wollen attraktiver sein. Das hätte auch was mit Glück zu tun. Nicht mit Mord.