Michael Thalheimer inszeniert „Endstation Sehnsucht“ am Berliner Ensemble
RONALD KLEIN
Bereits kurz nach seinem Regiedebüt 1997 erwarb sich Michael Thalheimer den Ruf, Klassiker zu entstauben und sie auf ihren Kern zu reduzieren. Mit mittlerweile sieben Arbeiten war er in den vergangenen Jahren beim renommierten Theatertreffen dabei.
Herr Thalheimer. Mythen fanden nicht nur Einzug in die antike Bühnenwelt. Ein moderner Theatermythos besagt, dass Sie ohne festes Konzept an eine Inszenierung herangehen. Das ist schwer vorstellbar.
Wie das Mythen so an sich haben, stimmt nur die Hälfte. Es gibt immer eine Konzeption. Aber ich weigere mich, diese dem Ensemble komplett vorzustellen, weil dann keine Luft mehr für eigene Visionen bleibt. Theater ist im besten Sinne Teamarbeit. Und damit meine ich alle Beteiligten – vom Musiker bis zum Schauspieler. Es sind alles denkende Menschen und ich möchte mich nicht nur von ihren Ansätzen überraschen lassen, sondern eine kreative Offenheit erzeugen. Es ist wichtig zu hören, was andere über das Stück denken. So beginne ich die Proben. Man liest, man unterhält sich über die Figuren und überlegt, was uns die Situation sagt. Sehr lange geht es um die Frage, warum wir ein Stück machen. Erst dann sprechen wir darüber, wie wir es umsetzen.
Es gibt mittlerweile das Verb thalheimern. Das bedeutet, die Fabel eines Stücks auf das Grundgerüst zu reduzieren.
Den Begriff habe ich kürzlich zum ersten Mal gehört. Ich musste schmunzeln. Denn was auch immer damit gemeint ist, es handelt sich um eine Kategorie, und ich bewege mich frei von Kategorien. Ich gehe nicht mit einer Strichfassung zur ersten Probe, die in Stein gemeißelt ist. Sie ist eine Diskussionsgrundlage. Die endgültige Fassung manifestiert sich im gemeinsamen Probenprozess. Allerdings kann ich nicht aus meiner Haut und versuche, ein Stück auf der Bühne auf das Wesentliche zu reduzieren.
Heiner Müller beschrieb Texte als Steinbrüche.
Ich würde sogar noch weiter gehen und von einem Steinklumpen sprechen. Ein Bildhauer erkennt darin eine fertige Skulptur, die er nach diesem Bild formt. Auch ein Regisseur muss etwas freilegen. Wichtig ist jedoch, in der Arbeit Freiheiten zuzulassen. Nur das erzeugt lebendiges Theater, sonst ist man zu sehr auf die Form fixiert und das würde mich langweilen.
Sind Sie Perfektionist?
Das ist so ein strenger Begriff, und ich würde nicht sagen, dass ich ein strenger Mensch bin. Vielleicht kann man sagen, dass ich in der Arbeit perfektionistisch bin.
Ihr Name ist mit der Inszenierung von europäischen Klassikern verbunden. Dass Sie „A Streetcar Named Desire“ auf die Bühne bringen, überrascht erst einmal.
Der englische Titel klingt viel poetischer, oder? Der Begriff Endstation hat eine brutalere Konnotation. Die Klassiker sind nach wie vor mein Interessengebiet, wobei ich mit Elfriede Jelinek und Jan Fosse auch Stücke zeitgenössischer Autoren auf die Bühne brachte. Aber nach 80 Inszenierungen in den letzten Jahren möchte ich mich stofflich nicht wiederholen, da dauert die Suche manchmal etwas länger. Tennessee Williams würde ich ohnehin auch zu den Klassikern des 20. Jahrhunderts zählen.
Die Protagonistin Blanche, die durch eine sich verändernde Epoche irrlichtert, repräsentiert das alte aristokratische Amerika.
Sie lebt an der Schnittstelle gesellschaftlicher Umbrüche. Das ist das Spannende – zu schauen, ob wir möglicherweise ebenfalls in einer Phase eines solchen Umbruchs leben und was das letztlich mit uns macht. Tennessee Williams geht mit der Lupe sehr nah heran an die Figuren und stellt die Frage, welche Verantwortung der Einzelne hat.
Der aktuelle gesellschaftliche Diskurs nimmt dem Einzelnen die Verantwortung ab.
Das stimmt, aber ich muss diesem Diskurs heftig widersprechen. Die eigene Verantwortung ist von essenzieller Bedeutung. Einerseits um das individuelle Glück zu erreichen – was auch immer das sein soll. Andererseits auch um das sogenannte Böse zu erklären. Dafür ist nicht die graue, gesichtslose Gesellschaft verantwortlich, das sind ganz konkrete Menschen. Das zeigt auch das Stück: Blanche ist von Anfang an verloren, sie ist schwach. Sie sucht Hilfe bei ihrer Schwester. Man könnte annehmen, dass die Familie ihr Rückhalt und Hilfe gibt, aber das Gegenteil passiert. Die Schwäche wird erkannt, führt nicht zu Mitgefühl, sondern zu Ablehnung und dann zum Kampf. Williams illustriert, wie die Überforderung des Einzelnen Empathielosigkeit erzeugt.
Vor 200 Jahren konzeptionierte Schiller die Schaubühne als moralische Anstalt, die den Menschen einen Kompass geben und ihn letztlich erziehen sollte. Wie würden Sie die Funktion des heutigen Theaters sehen?
Auf keinen Fall erzieherisch. Die Bühne zeigte damals, welche Lebensentwürfe möglich sind. Das ist mit der Sphäre der Moral verbunden. Heutzutage hört man oft, man solle bloß nicht moralisch werden. Man hat geradezu Angst vor diesem Begriff. Aber das ist grundfalsch. Was heutzutage fehlt – der Gesellschaft wie auch dem Einzelnen – ist Moral. Allerdings glaube ich nicht, dass die Bühne in der Lage ist, zu beschreiben, wie Menschen besser leben können. Mein Verständnis von Theater ist, den aktuellen Zustand in aller Härte und Radikalität zu zeigen – die Wunde und den Schmerz offenzulegen. Für den Heilungsprozess ist das Theater nicht zuständig. Ich kann nur Fragen stellen, die einen Diskurs ermöglichen, aus dem möglicherweise Veränderungen erwachsen.
Sie arbeiten als Hausregisseur am Berliner Ensemble, das einst Bertolt Brecht gründete. Ihm schwebte der denkende Schauspieler vor. Dieses Ideal teilen Sie, wie Sie eingangs betonten. Gehen Sie auch mit Brechts Vorstellung des denkenden Publikums mit?
Nein, Voraussetzung ist es nicht. Aber auch kein Nachteil. Genuss kommt vom Wissen. Aber ich gehe nicht mit dieser Eitelkeit oder Arroganz an die Inszenierung, dass ich vom Publikum verlange, dass es sich vor dem Theaterbesuch intensiv mit dem Stoff auseinandersetzt. Eine Aufführung muss für sich alleine stehen können und ohne Vorbildung funktionieren.