Der Zweite Weltkrieg war auch eine große Schlacht der Propaganda – vor allem im Radio. Wie sie mit sogenannten Feindsendern geschlagen wurde, kann man jetzt mit einer Dokumentation auf CD nachvollziehen

Es gibt Geschichten, die geistern durch Familien. Das Jahr 1944, eine Kleinstadt im Norden Deutschlands. Die alte Fachwerk-Innenstadt ist schon weitgehend zerstört, denn die Flugzeuge der Alliierten leeren ihre Bombenschächte über dem Ort. Was sie nicht über Berlin, Hamburg und Hannover abgeworfen haben, landet immer wieder hier. Restbomben – das Schicksal vieler deutscher Kleinstädte in der Zeit.

Unter dem Esstisch hockt ein Kind. Es hat sich dort versteckt, ist nicht zu sehen, weil die Tischdecke fast bis an den Boden reicht. Die Mutter weiß nicht, dass die Tochter im Raum ist. Zusammen mit der Nachbarin sitzt sie ganz nah am Volksempfänger, der besonders leise eingestellt ist. Heute sind nicht die schnarrenden Stimmen des Großdeutschen Rundfunks zu hören, die Fanfaren und Sondermeldungen von der Front. Sondern Deutsch mit englischem Akzent – unaufgeregt, zurückhaltend, journalistisch wird vom wahren Kriegsverlauf berichtet. Mutter und Nachbarin verinnerlichen jedes Wort, jede Information; die Sätze sind kostbar und gefährlich. Deshalb soll keines der Kinder dabei sein, auch die Älteste nicht. Zu groß ist die Angst, die Kinder könnten sich in der Schule verplappern. Es gibt noch so viele überzeugte Nazi-Familien. Doch die Achtjährige wird nie etwas verraten. Sie spürt, sie ist Ohrenzeugin von etwas sehr Verbotenem. Einem Geheimnis aus der Welt der Erwachsenen, das bis ins Wohnzimmer vordringt.

„Geheime Sender. Der Rundfunk im Widerstand gegen Hitler“ heißt jetzt eine CD-Box, die das Thema in großer Ausführlichkeit hörbar und damit zugänglich macht. Über zehn Stunden braucht man, um die ganze Kompilation durchzuhören, es sind acht CDs von jeweils mehr als einer Stunde. Im Sommer wurden die Features in einer sonntäglichen Reihe des hr2-kultur gesendet. Autor Hans Sarkowicz hat zusammen mit seinem Team eine Mischung aus erläuternder Rahmenerzählung, Originalquellen und eingelesenen Stellen zusammengestellt. Nun kann man sie sich nach Hause holen. Die Geschichte der NS-Zeit und besonders der Kriegszeit wird hier auf einmal sehr lebendig erzählt. Plötzlich zu hören, was die Großmutter und ihre Nachbarin in den Kriegstagen hörten, womöglich sogar die gleiche Aufnahme, erzeugt Gänsehautmomente. Denn die Frau mit dem Ohr an der Radiomembran, sie war meine Oma. Und das Mädchen mit den geflochtenen Affenschaukeln unter dem Tisch meine Mutter. Geheime Sender, ausländische Sender, Feindsender. In vielen Haushalten der NS-Zeit wurden sie gehört.

Natürlich kann man nicht sagen, in wie vielen. Zahlen gibt es nicht. Aber Berichte des SD (Sicherheitsdienstes) machen klar: Die Nazi-Führung hatte ein Problem. Besonders, als man in der Bevölkerung zunehmend der Goebbels-Propaganda misstraute. Und Ehemänner, Söhne, Brüder an der Front kämpften. Nicht nur, dass man bei Sendern – wie beispielsweise dem beliebten Deutschen Dienst der BBC – den wirklichen Kriegsverlauf erfuhr. Der für den Deutschen Dienst zuständige Chefredakteur Hugh Green beharrte darauf, „die Wahrheit“ sei das wichtigste Gut der Sendungen – selbst wenn man britische Niederlagen eingestehen müsse. Nach dem Krieg erzählte er: „Ich sagte mir: Wenn wir den Krieg verlieren und die Deutschen England überfallen, werden wir sowieso alle erschossen, also können wir getrost die Wahrheit sagen. Wenn wir durchhalten und das Blatt sich wendet, wird die Tatsache, dass wir bei der Wahrheit geblieben sind, bedeuten, dass das deutsche Volk uns weiterhin glauben wird. Und so ist es dann ja auch gekommen.“ Und noch etwas machte diese Sender so attraktiv. Wer Glück hatte, konnte womöglich das Lebenszeichen eines Angehörigen aus der Ferne übermittelt bekommen. „Sie hören unsere Kriegsgefangenensendung“ hieß es beispielsweise bei der „Stimme Amerikas“. Auf der CD wird ein Original dazu eingespielt, das sich in den Rundfunk-Archiven erhalten hat. „Hallo liebe Hilde, liebe Kinder, liebe Oma – hier spricht der Vati.“ Es gehe ihm gut, man solle sich daheim keine Sorgen machen. Und zum Abschied: „Also liebe Kinder, seid immer hübsch artig.“

Solche Kriegsgefangenensendungen, die es auch bei Radio Moskau gab, waren ein wichtiger Grund, das Hören ausländischer Sender zu riskieren. Denn mit Beginn des Zweiten Weltkriegs stand auf „Schwarzhören“ Zuchthausstrafe. Zu 985 Verurteilungen kam es allein 1942. Man muss bei dieser Zahl aber bedenken, dass das NS-Deutschland alles andere als ein Rechtsstaat war. Wie viele ohne Prozess in KZ´s und Zuchthäusern verschwanden, weiß man nicht. Im Kino warnte das Komödien-Duo „Tran und Helle“ in einem – heute würde man sagen „Spot“ – vor dem Abhören der „Feindsender“. Und ein Spottgedicht reimte: „Drei kleine Meckerlein, die hörten Radio./ Der eine stellte England ein, da waren’s nur noch zwo.“ Gelauscht wurde trotzdem. Oft unter schweren Bettdecken, damit Nachbarn, Blockwart oder Radiokontrolleure nichts mitbekamen. Und wichtige Informationen fanden so oder so ihren Weg zu den Betroffenen. Hatte ein Kriegsgefangener im Radio seine Familie gegrüßt (dabei wurde der volle Name und die Adresse der Familie in Deutschland genannt), erhielten die Angehörigen oft anonyme Briefe von anderen Hörern, die am Radio gesessen hatten. Flüsterpropaganda verbreitete sich schnell.

Joseph Goebbels, der Propaganda-Minister, hatte früh die Möglichkeiten des Radios erkannt. „Es wurde für ihn zum wichtigsten Propagandainstrument“, meint Hans Sarkowicz, „weit vor dem Film oder den Zeitungen.“ Eine Live-Reportage vom Tag der „Machtergreifung“ am 30. Januar 1933, die man auf der ersten CD der „Geheimen Sender“-Reihe hört, macht klar, warum. So direkt, so anschaulich, ja sinnlich konnte Geschriebenes kaum berichten wie hier aus Berlin, der Reichshauptstadt. Adolf Hitler war nun Reichskanzler, die SA marschierte mit Fackeln durch das Brandenburger Tor, „Wir stehen am offenen Fenster, sie können jetzt besonders gut hören, wie die Menge jubelt“, spricht der Radioredakteur ins Mikrofon, während man im Hintergrund die „Heil“-Rufe hört. Dann dreht sich der Reporter um, die Stimme wird leiser. „Wir werfen ein Blick ins Arbeitszimmer Adolf Hitlers. Im hellen Licht steht er am Fenster und blickt hinaus auf die vorbeimarschierende SA, auf die ungeheuren Menschenmassen, die ihm zujubeln.“ Mit „todernstem Gesicht“ stehe er dort, „er ist eben aus seiner Arbeit herausgerissen, keine Spur von irgendwelcher Siegesstimmung oder dergleichen, eine ernste Arbeitsstimmung, die auf seinem Gesicht liegt, er ist nur unterbrochen worden, und doch leuchtet es in seinen Augen.“ Die Live-Reportage ist geschickte, mal laut, mal leise, packend. Goebbels wusste, was dieses Medium erreichen kann. „Ich halte den Rundfunk für das allermodernste und für das allerwichtigste Massenbeeinflussungsmittel, das es überhaupt gibt.“

Umso mehr ging es nun darum, in möglichst vielen Haushalten ein Radio, einen „Volksempfänger“, zu etablieren. Dafür musste der Preis gesenkt werden. Der Volksempfänger wurde schlichter gebaut, das machte ihn billiger. Der Preis halbierte sich: für 76 Reichsmark war der „Volksempfänger VE 301“ zu haben, der Deutsche Kleinempfänger – im Volksmund Goebbels-Schnauze genannt – kostete sogar nur 35 Reichsmark. Die Zahl der Radiohörer schnellte in die Höhe, 1941 stand in Zwei Dritteln aller deutscher Haushalte ein Gerät.

Doch Funkwellen lassen sich schlecht national begrenzen, das wurde bald klar. So erfuhren NS-Gegner in Deutschland über den Kurzwellensender „Deutscher Freiheitssender 29,8“, der ab 1937 aus Spanien täglich ab 22 Uhr eine Stunde oder länger sendete, vom Einsatz der deutschen „Legion Condor“ im Spanischen Bürgerkrieg. Dieser Sender arbeitete mit vielen prominenten Exilanten wie Lion Feuchtwanger, Stephan Hermlin, Albert Einstein, Bertolt Brecht, aber auch mit berühmten Autoren wie Ernest Hemingway. Mit dem Sieg der Franco-Truppen 1939 verstummte er.

Allerdings waren nur wenige Deutsche mit Kurzwellensendern ausgestattet. Der normale Volksempfänger empfing Mittel- und teilweise Langwelle – und zwar in einer breiten Frequenz, damit der Großdeutsche Rundfunk mit seiner NS-Propaganda auch überall im Reich gut zu hören war. Doch diese weite Flur hatte seinen Pries. Denn damit fanden auch die ausländischen Sender genügend Platz, ihre Sendungen in die deutschen Haushalte zu bringen. Allein die BBC sendete ihr deutschsprachiges Programm am Ende auf 121 verschiedenen Frequenzen, sodass die Störsender der Nazis kaum noch nachkamen. Und die Engländer profitierten, wie auch die Amerikaner, davon, dass die alliierte Front immer näher an Berlin heranrückte. Denn: Je dichter dran, desto besser der Empfang. Damit aber hatte Radio Moskau nie zu kämpfen. Sie waren immer gut hörbar gewesen.

Überhaupt Radio Moskau. Dessen deutschsprachiger Dienst war schon 1929 auf Sendung gegangen, schließlich waren im Deutschland der Weimarer Republik die Kommunisten eine starke politische Bewegung. Man sendete auch nach 1933 weiter, auf Kurz-, Mittel- und Langwelle. Die Wahrheit spielte dabei, anders als bei der BBC, keine so große Rolle. Oft ging es darum, den verfolgten Genossen in der Heimat Mut zu machen und die Linie Moskaus zu erläutern. Am Mikrofon saßen deutsche Exil-Kommunisten, von denen viele später in der DDR Karriere machten. Zähneknirschend überstand man auch den Hitler-Stalin-Pakt, um dann – mit dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 – wieder zum eigentlichen Kerngeschäft zurückkehren zu können: dem akustischen Kampf gegen Hitler und die NS-Führung.

Die Kriegsgefangensendungen spielten auch hier eine große Rolle, und allein ihre Existenz strafte Goebbels und seine Propaganda-Maschine Lügen. Hieß es doch, die Rote Armee mache keine Kriegsgefangenen. Wer in ihre Hände gerate, sterbe sofort. Alle Briefe und Karten aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft ließen die deutschen NS-Behörden verschwinden. Kein Sterbenwort sollte durchdringen. Nun wurden in den Sendungen von Radio Moskau ganze Namenslisten deutscher Kriegsgefangener verlesen, mancher meldete sich auch direkt zu Wort.

Und noch etwas war möglich: die Geisterstimmen. Mit viel Stromzufuhr konnte man von Moskau aus für einen kurzen Moment den NS-Rundfunk überlagern. So geschehen bei Hitlers Neujahrsansprache 1944/45. Plötzlich verschwindet Hitlers Rede und wird von einer anderen Stimme übertönt: „Nieder mit Hitler und seiner Bande!“ Dieser Zwischenruf war überall im Deutschen Reich zu hören, Störsender halfen da nicht.

Das Thema der ausländischen Sender, die im Dritten Reich nach Deutschland funkten, ist ungeheuer spannend und komplex. Der Holocaust aber, er spielt kaum eine Rolle – obwohl das Wissen des Massenmordes an den europäischen Juden im Ausland bekannt war. Zu groß war wohl die Angst, die deutschen Hörer zu verlieren, deren Sendungen Goebbels als „alliierte Gräuelpropaganda“ beschimpfte. Wer sollte diese Dimension der Massenvernichtung glauben? So blieb es bei vereinzelten Sendungen und Hinweisen.

Eigentlich erstaunlich, dass eine solche Feature-Reihe erst jetzt entsteht. Hans Sarkowicz beschäftigt sich mit dem Thema seit 1986. Aber lange wurde das Radio unter Zeit-Historikern nicht ernst genommen. „Sie mögen eben lieber Papier“, sagt Sarkowicz. Zeit, dass sich das ändert.