Dieses Jahr feiern wir 25 Jahre Wiedervereinigung. Der Fotograf Jürgen Ritter machte in den 80er-Jahren tausende Bilder von der innerdeutschen Grenze und von der Mauer in Berlin. Jetzt suchte er die Orte wieder auf

Ewiger Spinner, so wurde er früher genannt. Damals in den 80er Jahren. Einer, der sich einfach nicht mit der Realität abfinden konnte, den die deutsch-deutsche Grenze weiterhin schmerzte, der den Anblick von Grenzzaun und Mauer, von Grenztürmen und bewaffneten Soldaten nur schwer ertrug. Zwanzig Kilometer wohnte Jürgen Ritter damals von der innerdeutschen Grenze entfernt, in der Lüneburger Heide. Sein Weg zur Arbeit als Fernmeldetechniker führte ihn jeden Tag direkt an der innerdeutschen Brandwand vorbei. Plötzlich war Schluss mit Westen – da drüben lag jenes „Dunkeldeutschland“, von dem der Bundespräsident nun wieder redet.

Wer starrt schon den Grenzzaun an? Niemand. Nur Spinner. Alle anderen fuhren achtlos vorbei. Es war so einfach, in den 80er Jahren dem anderen Deutschland den Rücken zu kehren. Die prägenden Milieus der Bundesrepublik hatten sich längst in der Zweistaatlichkeit eingerichtet, wer heute etwas anderes erzählt, der lügt. Politiker aller Parteien machten am Ende gute Geschäfte mit der DDR. Schulklassen fuhren nur pflichtschuldig rüber. Die mahnenden Schilder aus der ersten Zeit nach dem Mauerbau („Auch drüben ist Deutschland!“) standen zwar noch da, aber sie lösten nur noch peinlich berührtes Grinsen aus. Deutsche Einheit? Etwas für Ewiggestrige.

Jürgen Ritter konnte aber nicht wegschauen. „Alle paar Tage hat man gehört: Da ist jemand geflüchtet, es wurde geschossen, jemand ist auf eine Mine getreten.“ Während eines verregneten Urlaubs auf Fehmarn setzte er sich Anfang der Achtziger ins Auto, fuhr nach Hamburg und kaufte sich eine Spiegelreflexkamera, die im Angebot war. „Ganz schwarz, von der Firma Yaschica“, erzählt er heute – und diese Kamera wird, das kann man ohne Übertreibung sagen, sein Leben in eine neue Richtung lenken.

Er beginnt, Bilder von der innerdeutschen Grenze und der Mauer in Berlin zu schießen. Über 40.000 Aufnahmen werden es am Ende sein. Schon nach seiner ersten Ausstellung in Bad Bevensen 1981, in der sich die Grenzbilder noch mit anderen Motiven mischten – humorvollen Szenen (Baby im Kinderwagen und im Netz darunter liegt ein hochschwangerer Dackel) und Impressionen aus der Lüneburger Heide – ahnt er, was seine Bilder von der schwerbewachten Grenze auslösen, welche die DDR zynisch „Antifaschistischer Schutzwall“ nennt, deren perfide Abwehr- und Tötungsmechanismen sich aber nur nach innen richten, nur gegen die eigenen Leute.

„Ich wusste, du kannst mit Bildern Betroffenheit auslösen“, sagt der heute 66-Jährige. Damals nahm er seine schwere Kameraausrüstung und wanderte entschlossen nach und nach die Grenze ab, alles zu Fuß, und machte tausende Bilder. Aus ihnen ist jetzt ein Bildband entstanden, „Deutschland grenzenlos“, natürlich pünktlich zum 25. Jahrestag des Mauerfalls und der deutschen Einheit.

Das Buch spielt mit heute und gestern. Denn zwei Jahrzehnte nach dem Mauerfall ging Jürgen Ritter zurück an die Orte von damals – dorthin, wo das eine Deutschland endete und das andere begann – und nahm die gleiche Position ein, suchte den gleichen Winkel und fotografierte die Orte neu. So entstand ein eindrücklicher Vorher-Nachher-Effekt, der immer wieder den Irrsinn der deutschen Teilung vor Augen führt.

Wo vorher die Grenze mit Postenweg stand, unternehmen heute Fahrradfahrer einen Sommerausflug. Wo einst der Todesstreifen war, ist jetzt ein Fußballplatz. Die fast drei Jahrzehnte, in denen die Mauer das Land beherrschte, wirken wie ein böser Traum. Vorbei. „Deutschland grenzenlos“ ist ein Buch, dass man heute auf dem Couchtisch liegen haben kann, ein dekoratives Coffee-Table-Book. Die deutsche Teilung hat mit der Wiedervereinigung ein Happy End gefunden, wie es in der Weltgeschichte nur selten vorkommt. Welches Durchhaltevermögen hinter den Bildern im Buch steckt, welche Durststrecken der Fotograf hinter sich hat, welchen Anfeindungen, welcher Ignoranz er sich ausgesetzt sah, ahnt man kaum mehr.

Einmal wollte er seine Negative verbrennen, alle 40.000. „Ich hab’ die Schnauze voll“, sagte er sich, das war um 1994. Niemand interessierte sich für die Grenzbilder, kein Verlag wollte sie drucken. Für die Leute sei jetzt etwas anderes wichtig, hieß es – ein West-Auto kaufen, ein Haus einrichten, ein neuer Fernseher. Konsum, Konsum. Die innerdeutsche Grenze? Schnee von gestern.

Zum Glück traf er auf den Berliner Verleger Christoph Links, der brachte 1997 das Buch „Die Grenze. Ein deutsches Bauwerk“ heraus, mit Ritters Bildern und Texten von Peter Joachim Lapp. Ein Standardwerk zur Grenzanlage, das inzwischen in 9. Auflage erschienen ist. Danach ging es aufwärts. Heute betreibt Jürgen Ritter die Webseite www.grenzbilder.de, bringt jedes Jahr einen Kalender mit seinen Fotos heraus, ist ein gefragter Experte. Als „Revanchist“ beschimpft ihn keiner mehr. Und er wird natürlich auch nicht mehr von der Stasi beschattet und abgehört. Stattdessen erhielt er den Einheitspreis.

Andere wären über das, was er erlebt hat, womöglich verbittert. Er nicht. Warum? „Ach“, sagt er in seinem norddeutschen Tonfall, „als junger Mensch empfindet man das nicht so doll.“ Die Anfeindungen meint er. 35 Jahre war er, als der Ärger richtig losging.

Das war 1984. Damals hatte er eine Wanderausstellung zusammengestellt. „Deutsch Deutsche Realität“ hieß sie, und schon auf dem Ausstellungsplakat sah man viel Stacheldraht und dahinter einen Wachturm. Die Ausstellung wanderte durch die Rathäuser der bundesdeutschen Provinz, hatte innerhalb von zwei Jahren 85.000 Besucher, die oft verstört und bedrückt die Ausstellungsräume verließen. „Die Kamera verdichtet“, sagt Ritter. Der planierte Todesstreifen, die langen gerodeten Schneisen durch den heimatlichen Wald – beispielsweise im Eichsfeld – oder Flutlichtanlagen in einer herbstlichen Nebelnacht, das alles stand dem Publikum plötzlich vor Augen. Auch wenn sie vorher im Alltag weggeschaut hatten.

Klaus von Dohnanyi, der damalige Hamburger Bürgermeister, sah die Ausstellung und will sie in die Hansestadt holen. Doch er hat nicht mit dem Widerstand der eigenen Genossen gerechnet. Der Ausstellung fehlten „Kontraste und Variationen“, meinte der Bürgerschaftspräsident Peter Schulz. Man will sie absagen. Ein zu heißes Eisen, zu gestrig. Die 80er Jahre sind die Zeit boomender deutsch-deutscher Städtepartnerschaften, des von Franz-Josef Strauß eingefädelten Milliardenkredits für Ost-Berlin, es ist das Jahrzehnt, in dem Erich Honecker Bonn besucht und dort 1987 nach dem Staatsbesuch-Protokoll empfangen wird. SED-Vertreter und DDR-Wirtschaftsleute gingen im Hamburger Rathaus ein und aus, die wolle man nicht verprellen, kriegt Ritter zu hören.

Also werden die Texte unter seinen Bildern umgeschrieben. Und das Geleitwort, verfasst vom früheren Hamburger Bürgermeister Herbert Weichmann wenige Wochen vor dessen Tod, verschwindet ganz in der Versenkung. „Der Geschichte, jedoch nicht der Gewalt, muß es überlassen bleiben, die wünschenswerte Korrektur vorzunehmen“, hatte Weichmann dort geschrieben. Die Korrektur, das ist die Wiedervereinigung Deutschlands, die er herbeisehnt – ein SPD-Mann aus der Weimarer Zeit, jüdischen Glaubens, der 1933 ins Exil musste und nach 1945 nach West-Deutschland zurückkehrte.

Aber das war die alte SPD, die von Ernst Reuter, die aus Erfahrung noch strikt anti-kommunistisch dachte. Nicht die neue SPD, die durch die Schleuder von 1968 gegangen war. Willy Brandt und seine Ost-Politik begeisterten auch Jürgen Ritter damals so sehr, dass er 1972 in die SPD eintrat. Er hatte ja keine offenen Rechnungen mit Drüben. „Ich hatte keine DDR-Verwandtschaft“, sagt er. Und doch – dieser tägliche Anblick der hochaufgerüsteten Grenze, an der auf die eigenen Leute geschossen wurde, weil sie etwas wollten, was alle im Westen längst hatten: Freiheit – das habe ihn als Pazifisten ganz verrückt gemacht. „Gerade nach unserer deutschen Geschichte.“ Plötzlich standen da wieder deutsche Soldaten mit der Waffe in der Hand und gebrauchten sie auch . Es sind die Grenztruppen der NVA.

Diese Wut steckt in dem Bildband „Deutschland grenzenlos“. Es sind ewige Spinner wie Jürgen Ritter, deren Hartnäckigkeit wir solche Dokumente verdanken. „Ich bin der glücklichste Mensch, dass alles so gekommen ist“, sagt er heute über die Wiedervereinigung vor 25 Jahren. „Aber ich bin noch lange nicht zufrieden.“