KAI LUEHRS-KAISER
Ein Hoch auf die Darsteller der kleinen Rollen! Sogenannte „Comprimario“-Partien – für Darsteller von mittleren bis kleinen Parts – gelten in der Oper als undankbar. Einen großen Namen kann man sich kaum damit verdienen. Für junge Sänger wie den 28-jährigen Thomas Lehman indes bieten sie die Chance, sich auf der Bühne auszuprobieren, ohne vom Rampenlicht rasch „versengt“ zu werden. „Um das Lampenfieber loszuwerden, sind kleinere Rollen gut geeignet“, sagt der in Chicago geborene Bariton. Seine Vorfahren stammen aus Deutschland. Drei Generationen muss das her sein. Woher genau man kam, ist in der Familie nicht überliefert.
Dieser Junge von nebenan, amerikanisch unbeschwert, sang an der Deutschen Oper Berlin bereits Rollen wie Valentin im „Faust“, Sergeant in „Manon Lescaut“, Fiorello im „Barbier von Sevilla“ und Saretzki. Woraus stammt dieser Letztgenannte nochmal?! – Man sieht, es sind Rollen, zu denen einem oft nicht einmal die zugehörigen Opern einfallen. Bei Saretzki übrigens handelt es sich um Lenskys Sekundanten in Tschaikowskys „Eugen Onegin“.
Immerhin gab es in der Vergangenheit an der Deutschen Oper Berlin oft Darsteller von kleinen Rollen, die zu stadtweiter Berühmtheit gelangten. Die Altistin Kaja Borris etwa – eine unvergessliche Marthe Schwertlein in Gounods „Faust“. Ebenso der Tenor Peter Maus, nach wie vor regelmäßig gebucht in „La Bohème“ und als chinesischer Kaiser in „Turandot“. Darsteller wie sie – supporting actors der Oper – sind große Sympathieträger für das Publikum. Sie sind es, die man wiedererkennt und die damit eine familiäre Atmosphäre herstellen. Sie sind Symbole der schönen Publikumsbindung an jedem Opernhaus.
Thomas Lehman freilich ist schon heute gelegentlich in größere Aufgaben hineingewachsen. „Meine ganz große Sache war der Barbier in Rossinis ‚Barbier von Sevilla’. Innerhalb von einer Woche musste ich die Rolle von Etienne Dupuis übernehmen, den ich oft darin bewundert hatte.“ Es wurde Lehmans liebste Aufgabe. „Der Barbier ist ein guter Kerl, und ich mag seine hohen Noten.“ Auch Belcore in Donizettis „Liebestrank“ übernahm er (von Vorgänger Simon Pauly). Kürzlich folgte auch Graf Nevers in Meyerbeers „Hugenotten“.
„In zwei Jahren, wenn ich 30 Jahre alt werde, kann ich vielleicht sogar über einen leichten Verdi nachdenken.“ Welcher könnte das sein? Lehman meint: Marquis Posa. Das war die Antrittsrolle von Dietrich Fischer-Dieskau am Haus der Städtischen Oper (kurz nach dem Krieg). Also: hochfliegende Pläne. Fischer-Dieskau selber bezeichnete die Tatsache, mit dieser Rolle im „Don Carlo“ gestartet zu sein, im Nachhinein als „eigentlich verrückt“.
Zurzeit hat Lehman noch eine weitere, überaus prominente Rolle vor: Guglielmo in Mozarts „Così fan tutte“. „Die Rolle ist fast wie eine Heimkehr für mich, denn ich habe 2010 mit ihr mein Opern-Debüt in New York absolviert.“ Die Figur fühle sich gut und zugleich ganz anders an als früher, „zumal die Stimme tiefer und reicher geworden ist in der Zwischenzeit“. Guglielmo sei eine dankbare Partie, aber nur dann, „wenn das ganze Ensemble gut funktioniert“, so Lehman. Anders gesagt: eine „Ensemble Show“. Als ideale Rollenvorgänger betrachtet er den Italiener Luca Pisaroni und den Briten Thomas Allen. Noble Sänger von deutlich erotischem Mehrwert. Ganz genauso dürfte es auch bei Thomas Lehman sein.
Lehman erreicht mit der Rolle des Guglielmo das Zentrum seines gegenwärtigen Repertoires. Denn das heißt: Mozart. „Worauf ich hoffe, ist – vielleicht in fünf Jahren – der Graf in Mozarts ‚Figaro’.“ Der sei durchaus nicht langweilig oder steif, sondern im Gegenteil leicht hinterhältig, um nicht zu sagen: ein ‚gieriger Bock’. „Genau deswegen ist er im Vergleich zur Titelpartie die interessantere Rolle, die sich im Laufe der vier Akte noch dazu stark verändert.“ Später einmal könnte möglicherweise die Titelrolle im „Don Giovanni“ folgen, lieber jedenfalls als Leporello, den er als etwas zu tief für sich empfindet. Als „signature role“ der Zukunft wünscht er sich Eugen Onegin in Tschaikowskys gleichnamigen lyrischen Szenen. Möglichst so gut gesungen wie von Dmitri Hvorostovsky und – wiederum – Thomas Allen.
Angesichts seines ausgreifenden Oratorien- und Konzertrepertoires, das von Händel, Haydn und Schumann bis zu Dvořák, Orff und Britten reicht, könnte man sich fragen, ob wir es bei Thomas Lehman mit einem Opernsänger wider Willen zu tun haben? „Es gibt heutzutage eher zu wenig Konzert-Engagements, um davon leben zu können“, räumt Lehman ein. „Trotzdem möchte ich die Oper nicht missen, zumal man, sobald man die Bühne betritt, ein ‚anderes Tier’ in sich entdeckt.“ Wie das? „Der Auftritt geht mehr an die Nieren, erfolgt mehr aus dem Bauch heraus, ist leidenschaftlicher. Ich bin privat eher ruhig und entspannt“, präzisiert er. Damit sei es vorbei, sobald er auf der Bühne stehe. „Herrliche Sache! Man entkommt der eigenen Realität und entert gleichzeitig eine andere.“
Aus den USA, der Heimat von Thomas Lehman, kommen zahlreiche „riesige“ Opernstimmen – wie zum Beispiel Jessye Norman, Stephen Gould oder Heidi Melton. Warum ist das so? „Ich habe keine riesige, sondern eine normale Stimme“, betont Thomas Lehman. „Aber es ist schon so, dass amerikanische Hochschulen Wert darauf legen, dass wir gut über das Orchester ‚drüber’ kommen’“. „Durchdringen“ ist dort die Devise, Lehman nennt das: „cutting over the orchestra“. Die dynamischen Ressourcen amerikanischer Tenor- oder Sopran-Organe sind denn auch dermaßen legendär, dass sie zu dem Klischee geführt haben, amerikanische Stimmen seien „big, but boring“, groß, aber leider langweilig.
Wenn man sich vorstellt, dass sogar die – nicht eben bedeutende – “Florida Grand Opera“, von der Thomas Lehman kommt, immerhin 2400 Plätze zählt und damit über 500 Sitze mehr als die Deutsche Oper Berlin, kann man sich vorstellen, warum man in den USA große Stimmen favorisiert. Anders kann man in den dortigen Vielzweckraum-Monstren stimmlich kaum überleben. Interessant ist aber, dass große Stimmen vor allem unter Sopranen, Tenören und Bässen verbreitet sind. Kaum unter Baritonen! Sie bleiben – auch in Amerika – fast immer zivilisiert und liederkompatibel. Thomas Lehman, für den der Liedgesang die liebste Disziplin von allen ist, kann vielleicht von Glück sagen, eine dynamische Nische gefunden zu haben. Von ihm wird eine Giganto-Stimme nicht einmal erwartet.
Wann für „supporting actors“ der Zeitpunkt gekommen ist, zu dem sie selber groß herauskommen können, lernen sie übrigens schrittweise. „Dass man den Star auf der Bühne unterstützt, merkt man besonders dann, wenn dieser Star ausnahmsweise mal keinen guten Abend hat“, so Lehman. Das soll ja vorkommen. „Dann kriegt zuerst der Star selbst einen Adrenalinstoß – und dann ich!“ Zunächst sei es ein unangenehmes Gefühl. Und dann die Erkenntnis: „Jetzt bin ich dran! Meine Zeit ist da.“
„Wir haben alle unsere kleinen Ticks“, erläutert Lehmann. An denen könne man das Näherkommen eines schwachen Augenblicks auf der Bühne spüren. „Mein Tick besteht darin, dass ich, wenn ich nervös werde, Daumen und Zeigefinger aneinander reibe – mit der linken Hand.“ Leser dieses Artikels sollten auch einen praktischen Nutzen von diesem Text haben! Wo also Thomas Lehman – sei es in großen oder in kleinen Rollen – eine Schwäche kommen fühlt, da können Sie dies ab sofort erkennen. Vielleicht kann sogar das Publikum in solchen Lagen helfen und unterstützend aktiv werden. Und der schwache Moment vergeht. Alles wird gut – späte-stens, wenn der Vorhang kommt.