Work and Travel ist bei Schulabgängern der Hit, die Sehnsuchtsorte heißen Australien und Neuseeland. Dabei geht es nicht nur um Spaß
„Ich will weg von meiner Mutter und meinen Geschwistern“, sagt der 18-jährige Julius und holt tief Luft. „Nicht, dass ich sie nicht leiden könnte. Doch ich will was sehen von der Welt und neue Leute kennenlernen.“
Der frisch gebackene Abiturient aus Schöneberg will, was alle wollen: die Freiheit des Reisens auskosten, bevor das Leben anstrengend wird. Ferne Länder sehen, Abenteuer erleben, unbekannte Kulturen kennenlernen, Menschen aus aller Welt treffen und dazu atemberaubende Landschaften entdecken.
„Zuerst will ich in Thailand – einen Monat Party machen. Danach fliege ich nach Neuseeland und dann nach Australien und mache Work and Travel“, erläutert Julius den Plan. Dafür arbeitet er jetzt Vollzeit in einer Bäckerei. Wenn er genug Geld zusammen hat, soll’s losgehen. „3000 Euro will ich mitnehmen“, sagt er ernst, „bis Oktober schaffe ich das.“ Er freut sich auf die Erfahrung, nur aus dem Rucksack zu leben und ganz für sich alleine gerade zu stehen. Als jüngstes von vier Geschwistern muss man dafür einmal weit weg von allem sein, ist Julius überzeugt. „Ein Jahr Pause für mich“, verlangt er. „Hier bin ich viel zu abgelenkt, um herauszufinden, was ich eigentlich will.“
Die Lust zu reisen scheint heute riesengroß. Jugendbegegnungen, Workcamps, Sprachreisen und Schüleraustauschprogramme florieren, ebenso die Au-Pair-Stelle, das Year Abroad, britische Internate oder das Freiwillige Soziale Jahr in Kenia. Auch der Master an einer international anerkannten Universität ist gefragt.
Mittelschichtseltern, die das Beste für ihre Kinder wollen, schicken ihren Nachwuchs selbstverständlich ins Ausland. Längst hat sich ein riesiger Markt an Organisationen, Agenturen und anderen professionellen Vermittlern von Auslandsaufenthalten für junge Erwachsene etabliert. Gerade Work and Travel am anderen Ende der Welt ist zum Hit geworden. Wenn das Geld nach der Schule knapp ist und der rechte Lebensplan noch fehlt, wählen viele die populäre Kombination aus Reisen und Arbeiten und planen Dinge, die nichts mit Universität oder Ausbildung, dafür aber viel mit Abenteuer zu tun haben. Was einst die Ausnahme war, ist heute so verbreitet, dass sich für viele nicht mehr die Frage stellt, ob sie den Rucksack packen und aufbrechen, sondern: Wann, wenn nicht jetzt?
Keine Gegend ist weiter weg von zu Hause
Vor allem Australien und Neuseeland ziehen seit Jahren die Backpacker magisch an. Ein Viertel aller Touristen dort sind mit Rucksack unterwegs, die meisten zwischen 20 und 24 Jahre alt. Deutsche stellen 40 Prozent in dieser Altersgruppe – und sie bleiben am längsten. Der durchschnittliche Aufenthalt lag im Jahr 2000 bei 177 Tagen, acht Jahre später verweilten die Backpacker schon 359 Tage.
Vielleicht liegt es an der filmischen Strahlkraft von „Der Herr der Ringe“, dass die großen Kinder, kaum dass die Tinte auf dem Abi-Zeugnis trocken ist, ins neuseeländische Auenland aufbrechen.
„Klar, da hatte ich das erste Mal die Idee“, räumt Julius ein. Und als seine Schwester vor drei Jahren nach Down Under aufbrach, wurde sein Entschluss unumstößlich. Fröhlich sinniert er über kommende Freuden: durchs australische Outback streifen, in den Surferparadiesen vorbeischauen, vielleicht Bungee-Jumping ausprobieren. Jedenfalls weltweitweg sein. Keine Weltgegend ist weiter weg von Deutschland. Noch weiter weg wäre nämlich schon wieder näher dran an zu Hause.
Schöne verkehrte Welt
Auch haben Australien und Neuseeland das Wetter, das sich Backpacker wünschen. Sonne satt von Januar bis Dezember und allermeistens Temperaturen, die es einem erlauben, in kurzen Hosen aus dem Haus zu gehen. Im nasskalten deutschen Herbst macht sich ein Großteil auf den Weg, denn dann beginnt Down Under der Sommer. Schöne verkehrte Welt, von hier aus betrachtet: Weihnachten im Hochsommer, im Oktober blühen die Osterglocken, im Juni ist tiefster Winter. Alles genau andersherum als zu Hause, aber dank westlicher Prägung, guter Infrastruktur und Sicherheit ein bisschen wie daheim und nicht so exotisch, dass man komplett umdenken müsste.
Die meisten kommen begeistert zurück – und würden am liebsten gleich wieder aufbrechen. Doch das „Working Holiday Visum“ gibt’s in der Regel nur einmal im Leben. Im Jahr 2000 haben Deutschland und Australien eine wechselseitige Vereinbarung über Visa für junge Leute mit Reiselust und Erwerbstrieb getroffen. Seither erlaubt das Working Holiday Visum jungen Menschen zwischen 18 und 30, für zwölf Monate in Australien oder Neuseeland zu arbeiten, um ihre Reise zu finanzieren. Arbeit gibt’s als Erntehelfer auf Farmen, in Fabriken oder als Kellner oder Reinigungskraft in gastronomischen Betrieben.
Die Chance wird nur zu gern genutzt. In Australien wurden im Jahr 2015/16 knapp 200.000 Visa der Kategorie 417, working holidays, an Reisende zwischen 18 und 30 Jahren ausgegeben. Davon gingen 25.980 an Deutsche. Im Jahr zuvor waren sogar 26.819 Work and Travel Visa an Deutsche ausgegeben worden. Die meisten Ferienarbeiter, 42.175 waren es allein in Australien im vergangenen Jahr, kommen aus Großbritannien, dicht gefolgt von Deutschen, Taiwanesen, Südkoreanern, Franzosen.
Backpacker willkommen
Ein ähnliches Bild ergibt sich in Neuseeland. Sechs Millionen Touristen bereisen Neuseeland im Jahr, davon 60.000 Deutsche. Etwa 5000 von ihnen sind junge Erwachsene zwischen 18 und 30 Jahren, die, mit dem Working Holiday Visum ausgestattet, durch Aotearoa, das Land der großen Wolke, streifen. Mit der Vielfalt der Natur – Berge, Steilküste, Sandstrände, Fjordland, Regenwälder, Seen, Vulkanlandschaften – und dem Gefühl von Freiheit erklären die Backpacker ihre Faszination für das Land der Hobbits, Elben, Zwerge, Menschen, Rinder und Schafe und schwärmen, man komme als anderer Mensch wieder.
Doch nicht nur die Backpacker profitieren. Tatsächlich hängt gerade Australiens Landwirtschaft stark von den Ferienarbeitern ab. Im Northern Territory sind 85 Prozent der Arbeitskräfte „Working Holiday Maker“, im Landesdurchschnitt sind es 25 Prozent, vermerkt der Working Holiday Maker Survey der Australien Research Group. „Blieben die arbeitswilligen Rucksackreisenden fern, hätte das verheerende Folgen für die australische Wirtschaft“, heißt es im Bericht der Australien Research Group.
Das erklärt auch, warum Ferienarbeiter, die schon einmal mindestens drei Monate lang als Erntehelfer gearbeitet haben, seit 2005 ein zweites Working Holiday Visum beantragen dürfen. Drei positive Aspekte für die Wirtschaft hebt der Bericht hervor: Working Holiday Maker sind ein wichtiger Teil der Tourismusindustrie, sie geben mehr Geld von zu Hause aus, als sie in Australien verdienen, und sie decken den enormen Bedarf an flexiblen, kurzfristig Beschäftigten. Im Durchschnitt hat jeder Working Holiday Maker im Laufe seines Aufenthalts 2,3 Jobs und verdient damit im Durchschnitt 4.638 Dollar.
Der Wunsch, erwachsen zu werden
Warum immer mehr junge Menschen den kleinsten Kontinent der Erde bereisen, der nach der Sahara die zweitgrößte Wüstenregion der Erde aufweist und dessen Tierwelt die giftigste der Welt ist, hat Julian Hübner untersucht. „Work and Travel in Australien: Welche Motivation bewegt junge Deutsche zu einem ,Work and Travel’-Aufenthalt in Australien?“, lautet der Titel seiner Examensarbeit im Fach Geowissenschaften an der Universität Koblenz-Landau, die 2010 im GRIN Verlag erschienen ist. Inzwischen ist Hübner Lehrer für Sport und Geografie, im Fußball Cheftrainer beim KSC.
Mit seiner Examensarbeit hat Hübner eine Lücke geschlossen. Work and Travel wird statistisch erfasst, doch eine genaue Erkundung der Motivlage deutscher Ferienarbeiter fehlte bislang. 150 deutsche Working Holiday Makers zwischen 18 und 30 Jahren in Australien hat Hübner für seine Arbeit befragt. Die Ergebnisse: Der überwiegende Anteil (74,7 Prozent) nutzt den Aufenthalt als Überbrückungszeit zwischen Schule und Studium oder Studium und Arbeitsstelle. Der Aussage „Feiern und Party machen ist wichtiger als Arbeiten und Lernen“ stimmen 24,8 Prozent der unter 21-Jährigen „eher zu“ und 22,9 Prozent „gar nicht zu“. Bei den über 21-Jährigen reduziert sich die Zustimmung auf 17,1 Prozent und die Ablehnung wächst auf 36,6 Prozent.
Aufschlussreich sind die Angaben der Befragten zum Reisemotiv: 77 Prozent der unter 21-Jährigen und 80 Prozent der über 21-Jährigen nennen: Abstand zum Alltag daheim, Lösung aus Abhängigkeiten und Bindungen. „Der Wunsch des Erwachsenwerdens ist ein Hauptmotiv der Backpacker und knüpft an Ideale von Freiheit und persönlicher Weiterentwicklung an“, sagt Julian Hübner. Das gelte für junge Männer und Frauen gleichermaßen. Die weiblichen Rucksackreisenden legten nicht etwa mehr Wert auf Sicherheit bei der Reiseplanung. Im Gegenteil: Häufiger als die männlichen Backpacker gaben sie an, Abenteuer erleben und sich Herausforderungen stellen zu wollen sowie nach Unbekanntem zu streben.
Eine lange Tradition
„Party machen, Gleichgesinnte treffen und Spaß haben“ sei auch ein starkes Motiv für viele, genau wie der Wunsch, das eigene Englisch aufzupolieren. Wie sie auf die Idee zum Trip nach Down Under kamen, hat Hübner auch gefragt: 44,7 Prozent nannten Freunde und Bekannte als Ideengeber, jeder fünfte kam durch Internetforen zu Work and Travel, 17,9 Prozent fühlten sich durch Fernsehdokumentationen animiert. „Jeder Befragte hatte 2,75 Freunde, die schon einmal Working Holidays gemacht haben“, rechnet Hübner vor. „Das zeigt, wie alltäglich es mittlerweile für Deutsche ist, eine längere Zeit im Ausland zu verbringen. Vermutlich könnte es einem sogar eher zum Nachteil ausgelegt werden, wenn man keinen Work and Travel-Aufenthalt vorweisen kann.“ Längere Rucksackreisen seien in bestimmten Kreisen so verankert, dass man sich sage: „Wenn alle schon da waren, will ich da auch hin, um dieselbe Anerkennung zu kriegen, wie sie Freunden und Bekannten zuteil wird“, so Hübner mit Blick auf seine Daten. Jeder dritte der Befragten bestätigte die ersehnte Anerkennung als Reisemotiv.
Die Idee vom Aufbruch junger Menschen in die Welt als eine Art von Initiation kennt man seit vielen Generationen. Die Wanderschaft junger Handwerker, das Trampen, das Interrail-Ticket: Es sind jeweils zeitgenössische Ausprägungen des jugendlichen Wunsches nach Welt-er-fahrung im wörtlichen Sinn.
Der Rucksack begann am Ende der 1960er- Jahre dem Koffer Konkurrenz zu machen. Geboren aus dem Protest gegen bürgerliche Wertmaßstäbe und kulturelle Leitbilder, steht das Reisen mit Rucksack für die Sehnsucht nach dem einfachen, naturnahen Leben und den Verzicht auf westlichen Luxus. Anfangs schulterten noch Minderheiten politisch linker Kreise den Rucksack. Doch bald schon wogte die Alternativbewegung mit ihrer Vision der großen Rucksackrevolution in Wellen über die westliche Welt hinweg.
Boom der Alternativreisen
Zuerst wurden Nepal und Indien als Sehnsuchtsziele entdeckt. In den 1970er-Jahren entstanden in Asien erste Aussteigerzentren, die noch heute bekannt sind: Kuta auf Bali in Indonesien, Kathmandu in Nepal, Goa in Indien. Mit ihnen entstand das schlechte Image der Backpacker: verlotterte Menschen, die den ganzen Tag Drogen konsumieren, freie Liebe praktizieren und ansonsten auf der faulen Haut liegen. Einzelne Sehnsuchtsorte begannen sich zu wehren: Ende der 1970er-Jahre verhängte Singapur sogar ein Einreiseverbot für langhaarige Backpacker.
Mit dem Boom der Alternativreisen hat sich eine eigene Infrastruktur der Backpacker-Szene entwickelt. Outdoor-Kleidung ist städtische Indoor-Mode geworden, alternatives Reisen ein florierender Industriezweig. Neben Globetrotter-Shops, Internet-Foren, Zeitschriften und Backpacker-Hostel-Ketten gibt es Reiseführerverlage wie Lonely Planet, die in ihren Führern auf die Tücken von Erlebnisreisen vorbereiten. Die Backpacker-Bibel erschien 1975 zuerst für Südostasien und ist heute für jede Weltgegend zu haben. Der „Lonely Planet“ für Australien, dem Heimatland des für jeden echten Rucksackreisenden so faszinierenden Outbacks, erscheint schon in der 15. Auflage und stellt weltweit den meistverkauften Reiseführer über Australien dar.
Mittlerweile wird auch Kritik an der wachsenden Popularität des Lonely Planet und den Backpackern laut, die sich widerspruchslos an diesem Reiseführer orientieren. Denn die ursprüngliche Intention der selbstorganisierten Reise und des interkulturellen Austauschs mit der Bevölkerung vor Ort wird durch den Lonely Planet wohl nicht gefördert. Im Gegenteil: Dadurch, dass fast jeder Backpacker und Ferienarbeiter im Besitz eines Lonely Planet ist, trifft man sich genau an den Orten mit anderen Backpackern, die einem der Reiseführer vorschlägt – und bekommt so keinen Eindruck vom „echten“ Australien. Das wollten die meisten aus der heutigen Generation von Rucksacktouristen aber auch gar nicht, sagen die Autoren Benedict Geulen und Marcus Seibert in ihrer literarischen Rucksackreise „Mit Rückenwind“: „Sie suchen gezielt nach Gleichgesinnten, um Spaß zu haben und zu feiern. An diesem Come together der globalen Party-Kultur ist der Lonely Planet nicht ganz schuldlos.“
Auch Karriereberater empfehlen das Auslandsjahr
Aber vielleicht geht es ja doch nicht nur um Party. Hat der deutsche Massen-Exodus auch etwas mit der verkürzten Schulzeit zu tun? Damit, dass die Jungen nicht mehr zum Wehrdienst müssen? Und dass der Trip ans andere Ende der Welt zuverlässig eine so große Distanz verbürgt, dass die besorgten Eltern kaum nachkommen werden, um nach dem Rechten zu sehen?
Man kann viele gute Gründe dafür finden, die Lücke zwischen Schule und Ausbildung für einen Trip in eigener Sache zu dehnen. Auslandserfahrung macht sich auch im Lebenslauf als Sahnehäubchen gut: Dies führen die reiselustigen großen Kinder gerne ins Feld, wenn die Eltern ob der großen Pläne noch zaudern und zagen. Das Auslandsjahr ist mega-in, die intensive Erfahrung wird von Karriereberatern wie Reiseunternehmen empfohlen und in den Medien propagiert.
Ganz falsch ist das wohl nicht. Berufe werden internationaler, der Umgang mit ausländischen Geschäftspartnern und Kunden auch. Da kann es hilfreich sein, sich schon mal einem Kulturschock ausgesetzt zu haben. Wo Auslandserfahrung draufsteht, so meint man, stecken Flexibiliät, Offenheit und Sprachkenntnisse drin. Zu Recht?
Ausland gleich bessere Jobchancen, heißt das Credo – noch. Denn: Je mehr Leute ins Ausland gehen, desto weniger stimmt die Gleichung. „Neue Unterschiede müssen her; die Generation der Lebenslauf-Optimierer wird immer schneller, höher, weiter springen müssen: ein Hilfsprojekt in der Südsahara anleiern, ein Praktikum bei der US-Notenbank machen, ein Tutorium an einer südkoreanischen Universität geben. So großartig ein Auslandsjahr für jeden einzelnen Studenten ist, für alle zusammen wird der Arbeitsmarkt unentspannter“, schrieb M. J. Hartung schon im Jahr 2007 in der „Zeit“.
Wege der Selbsterfahrung
Fest steht: Die Zeit nach dem Schulabschluss ist eine Phase im phasenreichen Leben unserer Kinder, in der es um Bildung, um Reifung, auch um Loslösung aus dem Elternhaus geht.
Die Idee, dass junge Menschen aus dem Haus müssen, um Welt- und Menschenkenntnis zu erwerben, folgt einer alten Tradition und spiegelt sich in Phänomenen wie fahrenden Scholaren, der Walz, den reisenden Künstlern und Denkern. Literarisch wird das individuelle, sich selbst genügende Reisen in der Romantik programmatisch. Wanderjahre werden als Lehrjahre beschrieben, Fußmärsche als Wege der Selbsterfahrung.
Vom Reifen auf der Reiseroute zeugt auch die innige Verwandtschaft der aktuellen Reisefreude junger Erwachsener mit der frühneuzeitlichen Grand Tour, der Großen Reise. Die auch „Kavalierstour“ genannte Bildungsreise der Söhne des europäischen Adels, später auch des gehobenen Bürgertums, galt seit der Renaissance als Abschluss einer guten Erziehung und sollte der Bildung junger Adeliger den letzten Schliff verleihen. Sie löste im 17. und 18. Jahrhundert einen wahren Reiseboom aus.
Die jungen Herren, vereinzelt auch junge Damen, suchten einen Kanon europäischer Städte auf und besichtigten dort die Baudenkmäler und Kunstschätze der Antike. Jedem Land waren Erfahrungsbereiche zugeordnet: In Frankreich eignete man sich das gute Benehmen an, in Italien nahm man die kulturellen Schätze der Antike in Augenschein, der Besuch Roms war für den katholischen Adel obligatorisch. Die Reisenden sollten Kultur, Sitten und Sprachen fremder Länder kennenlernen, vielfältige Eindrücke sammeln und Verbindungen knüpfen, die für das weitere Leben von Nutzen sein können. „Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen“, befand Goethe und empfahl der Jugend: auf Ross, Boot oder Kutsche und auf gen Italien!
Erotische Abenteuer inklusive
Selbst Erfahrungen in erotischen Angelegenheiten zählten zum Bildungsziel. Jungen Männern sollte Gelegenheit geboten werden, sich die Hörner abzustoßen, bevor sie im Hafen der Ehe anlegten. „Man war nämlich der festen Überzeugung, dass die jungen Männer eine gewisse Vertrautheit mit dem Laster erwerben müssten, um den Alten Paroli bieten zu können und nicht jedes Mal als Einfaltspinsel dazustehen, wenn einer Gesellschaft der Sinn nach einer Unterhaltung über heikle Themen steht“, beschreibt ein Zeitgenosse im Jahr 1819 den Reifeprozess.
Je nach Herberge konnte auch ein „garniertes Bett“ bestellt werden, das neben der Schlafstatt eine Gefährtin für die Nacht enthielt. Die Grand Tour fungierte so unterschwellig auch als eine Art Initiationsritus zur Mann-Werdung. Damit die unerfahrenen, aber ungestümen Zöglinge nicht zu sehr über die Stränge schlugen, reiste ein älterer Aufpasser mit – der Prinzenerzieher oder Hofgelehrte, oft Tutor, Governor oder Bear-Leader genannt, der durch eigene Bildung, Organisationstalent, diplomatisches Geschick und moralische Autorität größere Eklats zu verhindern wusste. Auch das wünschen sich Eltern heute, wenn sie Agenturen mit der Reiseplanung des Nachwuchses für Work and Travel beauftragen.
Die Grand Tour fand großen Anklang in anderen europäischen Ländern und erweiterte den Kreis der Reisenden auf das gehobene Bürgertum: Wer immer es sich leisten konnte, brach zumindest zu einer kurzen Reise auf.
Die Begeisterung für das Reisen beginnt mit der Begeisterung für die Berichte von Reisenden. Vorläufer des Lonely Planet erschienen massenhaft: Ratgeber, Reisetagebücher und Reiseberichte zur Grand Tour, die Abenteuerlust und Fernweh anstachelten. Um die Reisenden herum entstand ein eigener Dienstleistungssektor: Die Anbieter von Ausrüstungsgegenständen, aber auch die Vermieter von Unterkünften konnten sich über blühende Geschäfte freuen. Das Spektrum der Übernachtungsmöglichkeiten reichte von preiswerten, wenig komfortablen Unterkünften auf den Strohsäcken der Poststationen bis zu einfachen Pensionen und Herbergen entlang der Reiserouten, die wenigstens Verpflegung oder Wäschewaschen mit anboten. Teure Hotels locken die adligen Herren mit dem gewohnten Komfort – Baldachinbetten und erlesene Speisen und Weine.
Und heute? Party machen gehört dazu
Was damals heimlich gefiel, ist heute offen erlaubt. Doch welche Rolle spielen heute Wünsche erotischer Provenienz, der Genuss erwachsener Freuden oder eine gewisse Experimentierfreude mit Rauschmitteln aller Art fernab von zuhause, vorwiegend unter Gleichaltrigen und abseits elterlicher Argusaugen, gestützt durch die Flüchtigkeit der Anwesenheit an festen Orten, wie es das Reisen nun mal mit sich bringt?
Julian Hübner bleibt vage: „Es ist eine Mischung aus bestimmten Orten und dem Partyleben. Die Hürden sind nicht so hoch, wenn man knapp bekleidet in der Sonne reist. Australische Mädchen gelten als ansprechbar, europäische Mädchengruppen unterwegs stehen auf australische Surfertypen.“
Nicht dass diese Etappe der Reiferoute Eltern irgendetwas angehen würde, aber fragen kann man (sich) schon, während man sich wundert: Kinder, die ihre Eltern einst verständnislos anschauten, wenn die am Strand, in den Bergen, im Wald oder am See die Schönheiten der Natur priesen, loben jetzt auf einmal die Panoramen Neuseelands in den höchsten Tönen. Sie haben nicht mal den kleinsten Familienausflug ohne Blasen überstanden – und jetzt ziehen sie mit einem 20 Kilo schweren Rucksack los und sagen, sie wollen den Abel Tasman Coast Track erwandern. Zu Fuß!
Sie schliefen doch immer gern aus und haben jahrelang ernste Vorbehalte gegen allzu große Arbeitsanforderungen gehegt. Jetzt wollen sie in Muschelfabriken, Kneipen und Weinbergen, auf Kiwi-Farmen und Zwiebelplantagen jobben und damit ihren Lebensunterhalt beim Reisen sichern. Denn die zahlreichen Hotspots mit weltbekannten Naturwundern wie Rainforest, Great Barrier Reef und Ayers Rock sind eben nur die eine Seite, genauso wie der australische Lifestyle, der Backpackerherzen höher schlagen lässt: „Surfstrände an jeder Ecke, lockerer und freundlicher Umgang und überall kostenlose Grills, die zum Barbecue einladen“ zählt Julian Hübner auf. Die andere Seite: „Bei bis zu 45 Grad im Schatten kämpfen sich angehende Akademiker durch die Spinnennetze der Bananenplantagen, um die zentnerschweren Bananenstauden von ihren Schultern in den Wagen zu hieven. In stickigen Lagerhallen sitzen reihenweise Studenten, die damit beschäftigt sind, Mangos nach der Größe zu sortieren.“ So schildert es Julian Hübner.
„Kein Ding für mich. Ich mache das alles“, sagt Julius aus Schöneberg und funkelt angriffslustig mit den Augen. Wie zum Beleg dafür, dass er ordentlich anpacken kann, lässt er die Muskeln spielen. „Klos in Hostels putzen, Bettlaken falten, Geschirr abwaschen, im Restaurant bedienen, Kiwis pflücken oder sonstwas. Hauptsache, ich verdiene genug Geld, um ein ganzes Jahr wegbleiben zu können. Ohne Familie, nur mit Freunden.“ Dann zuckt er mit den Schultern und sagt leise: „Wie soll man denn sonst herausfinden, ob man auch ohne Familie auf eigenen Füßen stehen kann?“