Fast die Hälfte der Kinder wachsen in Berlin mit mehreren Sprachen auf. Wir stellen zwei Familien vor
Flinke kleine Füße flitzen über Flure und Treppen. Helle, fröhliche Kinderstimmen erfüllen Haus und Garten, und das dreisprachig. „Hola como estas“ (Hallo, wie geht’s) tönt es auf Spanisch aus dem ersten Stock, ein rotblonder Junge erscheint am Fenster, um gleich wieder zu verschwinden, denn auf dem Dachboden beschwert sich eine laute Mädchenstimme über ihn: „Oh, Mum, he broke it“ (Er hat’s kaputt gemacht), und im Korridor fragt ein anderes Kind: „Wollen wir fangen spielen?“
Viel los an diesem sonnigen Nachmittag. Man spürt: die Kinder fühlen sich zu Hause hier – die zehnjährige Alessia, ihre zwei Jahre jüngere Schwester Luciana und ihr inzwischen sechsjähriger Bruder Felix, dessen gleichaltrige Freundin Johanna heute zu Besuch ist. Dabei wohnen die kleinen Gastgeber erst seit einem Jahr in Zehlendorf. Im Juni 2015 sind sie aus Buenos Aires nach Deutschland gekommen – mit ihren Eltern, der Argentinierin Gabriela Block und ihrem US-amerikanischen Mann Michael.
Für die Kinder ist der Sprachmix selbstverständlich. Nicht ungewöhnlich in Berlin. Der Berliner Interdisziplinäre Verbund für Mehrsprachigkeit (BIVEM), der vom Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft initiiert und mit Unterstützung des Berliner Senats 2011 gegründet wurde, informiert in einer Flyer-Reihe, die sich vorrangig an pädagogische Fachkräfte und Eltern mehrsprachiger Kinder richtet: Fast jedes zweite Kind wächst in Berlin mehrsprachig auf. Mehr als die Hälfte aller Menschen weltweit ist mehrsprachig, deutschlandweit steigt ihre Zahl ständig an.
Wie ein spannender Thriller
Per Definition gelten jene Menschen als mehrsprachig, die im Alltag zwei oder mehr Sprachen benutzen können. Oftmals haben sie internationale Biografien. Die Lebensstationen der 42-jährigen Gabriela Block, die wieder als Opernsängerin arbeiten möchte, „sobald alles perfekt läuft“, muten an wie ein spannender Thriller. Mütterlicherseits irisch-italienisch-schwedischer Herkunft, vom Vater her italienisch-französisch. Geboren in Buenos Aires, „wo Spanisch mit italienischem Tonfall“ zu hören ist.
Bei ihrer ersten Europareise, mit 18 Jahren, fand sie ihn in Rom, diesen offenen, lauten Singsang des Vaters. Der hatte seine Frau und die drei Kinder Mitte der 70er Jahre auf die Flucht vor der argentinischen Militärdiktatur mitgenommen. Die damals zweijährige Gabriela kam nach Rhodesien, dem jetzigen Simbabwe. Bald danach emigrierte die Familie vor dem Bürgerkrieg nach Kinshasa, wo Gabriela eine amerikanische Schule besuchte. 1983 war man wieder Buenos Aires, aber schon ein Jahr später ging es weiter - nach Patagonien, ins malerischen Skigebiet Bariloche, wo die Abiturientin ihre Berufung erkannte: die Musik.
Sie wechselte nach Buenos Aires, um am dortigen Konservatorium zu studieren. Zwischenstopp in Südafrika: im schicksalhaften Jahr 1994, als Nelson Mandela zum Präsidenten gewählt wurde. Stationen, die prägten. Ihrem Mann Michael, den sie in Buenos Aires kennengelernt hatte, folgte Gabriela zunächst nach London, Chicago und New York, wo alle drei Kinder zur Welt kamen, 2011 schließlich wieder nach Buenos Aires. Gabriela Block hat Pässe dreier Nationen: Italien, Argentinien, USA, beherrscht Spanisch, Englisch, Französisch, Italienisch, Portugiesisch – und Deutsch. Begonnen hat sie damit vor 15 Jahren, in München, wo sie Michael zum Praktikum begleitete. Obwohl sie eingangs warnt: „Mein Mann kann viel besser Deutsch als ich!“, spricht sie fast so gut wie der 46ährige Sohn eines US-Amerikaners und einer Deutschen, der als Teenager mehrmals seine Großeltern in Berlin-Kladow besuchte.
Hilfe beim Start
Der Neuanfang der Familie in Berlin indes hat berufliche Gründe. Der Betriebswirt arbeitete jahrelang in Argentinien als Teilhaber einer Investmentgesellschaft für internationale Beteiligungen und folgte jetzt seinem deutschen Geschäftspartner nach Berlin. Der vermittelte das Zehlendorfer Haus, hilft auch sonst beim Start. „Überhaupt haben wir gute Freunde hier, aus eigener Kraft hätten wir den Neubeginn nicht so schnell bewältigt“, sagt Gabriela Block. Eine wichtige Rolle spielt dabei die argentinische Community. Ein verlässliches Netzwerk sei eben Gold wert.
Das können auch Simon Mikio Lewis und seine Frau Helena-Alexandra Reut bestätigen, die im Januar 2016 aus Polen nach Berlin kamen. Es ist Sonnabend, später Vormittag. Die Familie hat es sich in der Wohnküche in Prenzlauer Berg zusammen mit den beiden Kindern gemütlich gemacht. In bauchigen blau-weißen Kannen dampfen Kaffee und Tee, es gibt Croissants. Der vierjährige Dominic zappelt auf seinem Stuhl. Gabriel, neun Monate alt, thront auf seinem hohen Baby-Sitz und lacht, frisch ausgeschlafen. Die Jüngsten bestimmen eben den Tagesablauf – auch in Warschau, wo Gabriel zur Welt kam, oder in Cambridge, wo Dominic das Licht erblickte. Papa Simon Lewis ist väterlicherseits englisch-walisischer Brite, mütterlicherseits Japaner, in Japan geboren, in England aufgewachsen, wo er Literatur, Geschichte und Kultur – Spezialrichtung Polen, Ukraine, Belarus und Russland – studierte.
Helena-Alexandra Reut ist als polnische Weißrussin in der Belarus groß geworden. Ortswechsel sehen beide unverkrampft. In Moskau hat Helena ihren ersten Abschluss in Geschichte und Theologie gemacht. Simon lernte sie 2008 in Warschau kennen, wo sie gerade ihr Kunststudium absolvierte. Zwei Jahre später zog das Paar nach Cambridge, Simon promovierte dort. Nach einem Zwischenstopp in Warschau bekam der nun 33-Jährige einen Zwei-Jahres-Vertrag für eine Post-Doktoranden-Stelle an der FU Berlin und teilt die Meinung seiner Frau: „Berlin ist ein guter Platz zum Leben.“ Und doch sei es nicht so einfach durchzustarten, neue Freundschaften zu schließen. Hilfreich sei die Dominikaner-Gemeinde, die das katholische Paar freundlich aufgenommen hat. Die größte Unterstützung aber komme von anderen Immigranten, der Russisch sprachigen Community beispielsweise. Da sei man ständig via Facebook in Kontakt, erfahre Rat in Alltagsfragen. Und die FU stellte einen Kita-Platz für Dominic zur Verfügung. Helena ist Berlin und den Berlinern dankbar: „Alle sind so freundlich zu uns.“
Berlin als Zentrum Europas
Überhaupt empfindet die Familie Berlin als Zentrum Europas, auch wegen der Sprachen-Vielfalt. Die ist in der ganzen Wohnung präsent: Regale voll bunter Kinderlektüre in sechs Sprachen: Englisch, Russisch, Polnisch, Japanisch, Weißrussisch und Deutsch. Die ersten drei spricht Dominic fließend, Deutsch kommt jetzt hinzu. „Uns ist es wichtig, die Kinder mit der Kultur unserer Herkunftsländer vertraut zu machen, das geht mit Büchern am besten“, sagt Simon Lewis.
Buchhändlerin Mariela Nagle kann dies aus Erfahrung bestätigen. Die 44-jährige Argentinierin gründete 2007 ihre internationale Kinderbuchhandlung „mundo azul“ in Prenzlauer Berg. Die zweifache Mutter, seit 2004 Wahlberlinerin, wollte mit ihrem Laden einen Ort schaffen, „wo meine Kinder auf natürliche Weise in Kontakt mit meiner Sprache, Büchern und meinen Landsleuten kommen können“. Bald merkte sie, dass es auch Familien aus anderen Herkunftsländern so ging – und erweiterte ihr Sortiment.
Ihre auf Bilderbücher spezialisierte Buchhandlung veranstaltet inzwischen Buch- und Kunstprojekte für Schulen, Bibliotheken und andere Einrichtungen. „Egal aus welchem Land ein Buch kommt: Bilder sind allgemein verständlich“, sagt die studierte Sprach- und Literaturwissenschaftlerin, Historikerin und Pädagogin. Sie ist sich sicher: Bücher können die Integration fördern. „Allerdings sollte man heutzutage meines Erachtens besonders kritisch mit der Kinderliteratur-Auswahl, insbesondere der Unterrichts-Lektüre, sein.“, so die Insiderin. Es sollte Abstand genommen werden vom Konzept der 1970er Jahre – der moralisch-pädagogischen Vermittlung, was es bedeutet, Migrant zu sein. Die entsprechenden Klischees – hier die wohlhabenden, helfenden Deutschen, dort die traumatisierten, hilflosen Opfer – produzierten nur Mitleid. Hilfreicher sei es, ganz normale Geschichten zu erzählen und dabei Gemeinsamkeiten zu betonen. Damit die nächste Generation mit einem neuen Bewusstsein aufwachsen kann. „Die Botschaft sollte sein: Wir alle sind ein Team. Es ist egal, wo wir herkommen. Wir sind hier, wir leben die deutschen Werte, und wir haben gemeinsame Ziele“, so die Buchhändlerin.
Die passenden Kitas und Schulen sind wichtig
Sie weiß aber auch: Einwanderer brauchen für ihre Kinder so schnell wie möglich geeignete Kitas und Schulen, wo sie schnell und effizient Deutsch lernen. Mariela Nagle und ihr Team haben zur Unterstützung mehrsprachiger Familien eine umfassende Liste bilingualer Kitas und Schulen auf die Homepage von „mundo azul“ gestellt. Denn in bilingualen Einrichtungen funktioniere Sprachförderung erfahrungsgemäß am besten.
Das haben auch Dominics Eltern erkannt. Der quirlige Vierjährige ist stets in Action, immer sein Lieblingsspielzeug, eine rote Lokomotive, in den Händen. Zwischendurch produziert er Seifenblasen, pustet sie allen Beteiligten ins Gesicht. Der aufgeweckte Junge, der mit Fremden nur auf Englisch kommuniziert, wird nachdenklich, wenn er nach der Kita gefragt wird. „Die Großen schubsen immer“, sagt er, und sein Vater erklärt: „In der Uni-Kita sind Drei- bis Sechsjährige in einer einzigen großen Gruppe. Klar, dass Probleme mit den größeren Jungen auftreten.“ Zudem gebe es keine separaten Räume, kaum erzieherische Anleitung der kindlichen Aktivitäten, eine mangelhafte pädagogische Struktur. „Die Kids können allein entscheiden, was sie spielen. Diese uneingeschränkte Freiheit ist nicht gut für sie“, sagt Simon Lewis. So könne in dieser Kita mit vielen internationalen Schützlingen weder die Integration funktionieren noch erfolgreich die deutsche Sprache vermittelt werden. Von der bilingualen Steglitzer Kita, in die Dominic bald wechseln wird, versprechen sich seine Eltern nun eine zielgerichtete Sprachförderung.
Dieser Problematik widmete sich auch die Linguistin Prof. Dr. Rosemarie Tracy von der Universität Mannheim in einem Vortrag über Mehrsprachigkeit an der HU Berlin, als sie der Frage nachging: Wenn Menschen so gut Sprachen lernen können, warum ist dann der Förderbedarf für Deutsch als Zweitsprache so hoch? Rosemarie Tracy gibt ungünstige Spracherwerbsbedingungen als Grund an. Der Kontakt mit der deutschen Sprache komme oft zu spät zustande, sei zu kurz, nicht regelmäßig. Und die Kinder würden an Kitas oft kommunikativ unterfordert, mit Phrasen wie „Jetzt alle mal Hände waschen“ etwa. Die Ursachen der Defizite in Kitas sieht Tracy im Personalmangel, zu großen, zu lauten Gruppen, überforderten Erzieherinnen, mangelhaftem Fachwissen. Und der BIVEM konstatiert, bei ca. einem Drittel der Berliner Kinder mit Migrationshintergrund seien Verzögerungen in der Sprachentwicklung im Deutschen festgestellt worden. Daher seien wissenschaftlich fundierte Fördermaßnahmen an Kitas und Schulen notwendig.
Effizient und individuell
Wie gut, dass es bei Alessia, Luciana und Felix Block mit der bilingualen Schule geklappt hat. Alle drei besuchen die renommierte John-F. Kennedy-Schule. Deutsche und amerikanische Kinder lernen traditionsgemäß zusammen im Klassenverband, aber auch Kinder aus der ganzen Welt. Das Lehrprogramm – effizient und individuell zugeschnitten auf jedes Kind – je nach Muttersprache, mit Sonder-Förderunterricht für Deutsch-Anfänger. Alessia, Luciana und Felix lernen nach dem Modell „Muttersprache Englisch, Partnersprache Deutsch“. Volles Programm also. Aber es gibt ja zu Hause das Klavier – als Kontrapunkt.
„Zweimal in der Woche kommt unser Lehrer“, sagt Alessia und spielt Vivaldi vor: ein Stück aus den „Vier Jahreszeiten“. Felix trägt sein Lieblingslied vor: „Super Trouper“ von Abba. Selbst die schüchterne Luciana taut auf, haut den Flohwalzer in die Tasten. Die Zweitklässlerin bleibt im Gespräch bei Englisch als sie erzählt, wie gern sie liest. Harry Potter ist ihr Lieblingsheld. Sie möchte mal selber Bücher schreiben. Und zwar in einem Dorf in den Alpen, wo es ganz still ist. „Aber diese Gegend hier ist ideal für sie“, sagt die Mutter liebevoll lächelnd. Sie meint Zehlendorf.
Wir stehen auf der Veranda, schauen in den Garten, wo nächste Woche eine Grill-Party steigen soll. „Felix hat Geburtstag, wir haben seine Vorklasse eingeladen, samt Eltern und Geschwistern“, sagt die Mutter. Die Klassenkameraden sind überwiegend deutsche Muttersprachler.
Ermutigung zur Selbständigkeit
In diesem Moment läuten die Abendglocken. „Ich liebe diese friedliche Stimmung, fühle mich wirklich zu Hause hier. Und vor allem sicher, anders als in Buenos Aires“, sagt Gabriela. Unmöglich sei es gewesen, die Kinder allein nach draußen zu lassen. Michael ergänzt: „In Deutschland werden die Kinder früh zur Selbständigkeit ermutigt.“ Seit kurzem gehen Alessia und Luciana allein zur Schule. Die Eltern haben das stolz auf Facebook gepostet und Empörung aus Buenos Aires und New York geerntet. Zwischenrufe aus einer anderen Welt.
Was sie hier vermissen? Michael überlegt: „Vor allem die Familie – Eltern, Geschwister. Und natürlich New York.“ Alessia vermisst ihre Schulfreunde aus Buenos Aires. „Manchmal chatte ich mit ihnen“, sagt sie, doch man merkt: Die Erinnerungen verblassen allmählich. „Wir sind hier, und hier wollen wir auch bleiben“, sagen Gabriela und Michael Block. Um beim Deutschlernen zu helfen, haben sie privaten Nachhilfe-Unterricht für die Kids organisiert - ein Privileg, das nicht alle Einwanderer haben.
Für elterliche Unterstützung gibt es dennoch genügend andere Varianten. Bilderbücher sind eine Möglichkeit. Oder einfache Geschichten auf Deutsch – am besten in Reim-Form. Reime gehen mit ihrer Rhythmik ins Ohr. Den Einstieg erleichtern auch Kinderlieder. Und noch eine Variante: „Die gesprochene deutsche Sprache lernen die Kinder super gut mit Hörbüchern“, erzählt Buchhändlerin Mariela Nagle.
Sprachen lernen soll vor allem Spaß machen. Deshalb lassen Gabriela und Michael Block es entspannt angehen, in kleinen Schritten, erzwingen nichts, lassen die Kinder ihre Strategie finden. Michael Block sagt: „Unsere Kinder haben inzwischen begriffen, dass die ganz coolen Kids beide Sprachen – Englisch und Deutsch – perfekt beherrschen.“ Noch ein wenig unsicher, vertraut Alessia eher einstudierten Sätzen aus dem Deutsch-Unterricht als improvisierter Konversation. Felix ist da flexibler, redet munter drauflos. „Er hat die besten Voraussetzungen, weil er noch so jung ist“, weiß sein Vater. Zu Hause aber sollen hauptsächlich die beiden Herkunftssprachen bewahrt werden. Gabriela beispielsweise trainiert so oft wie möglich Spanisch mit den Kids.
Sprache ist auch Identität
Eine Strategie, zu der die Fachwelt Einwanderer-Familien rät. Der BIVEM betont: „Es ist gut, wenn Eltern mit ihren Kindern die Sprache sprechen, die sie am besten beherrschen und die ihnen am nächsten ist.“ Für die Eltern-Kind-Beziehung sei eine gemeinsame Sprache wichtig. Schließlich hat Sprache auch mit Identität zu tun. So sieht Gabriela Block Spanisch als untrennbaren Teil der Famlienkultur. Helena Reut und ihr Mann Simon sagen dagegen: „Für immer mehr Menschen ist nationale Identität nicht mehr so wichtig. Wir fühlen uns als EU-Bürger.“
Der Neurowissenschaftler und Linguist Prof. Pulvermüller weiß, dass die Menschen da unterschiedliche Prioritäten setzen. „Wichtiger als die Sprache ist meiner Meinung nach: Wie gut identifiziert sich der Mensch mit der jeweiligen Kultur? Kann er sich in eine neue Kultur einfinden? Eine wichtige sprachwissenschaftliche Theorie sagt, dass Einwanderer umso besser die Sprache ihrer neuen Umgebung lernen, je besser sie ‚akkulturiert‘ sind, also je eher sie sich mit der neuen Kultur anfreunden können und sich angenommen fühlen“, erklärt er. Andererseits bringen sich diese mit ihrem Kulturgut in die neue Umgebung ein. Haben nicht schon immer über Einwanderer Wörter, Sprüche und Redewendungen anderer Kulturen ihren Platz in unserer Alltags-Kommunikation gefunden?
Mehrsprachigkeit sei also kein neues Phänomen, sondern „weltweit Normalfall, außerdem positive Herausforderung für das Gehirn“, so Rosemarie Tracy, die kritisiert, dass an manchen Schulen Zweisprachigkeit als Störfaktor empfunden wird. Und FU-Professor Friedemann Pulvermüller erklärt: „Sogar die Gesundheit profitiert: Neue Studien belegen die Wirkung bei Demenzerkrankungen wie Alzheimer und Semantische Demenz.“ Demnach verzögere sich der Beginn dieser Erkrankungen bei Zweisprachigen um 4-5 Jahre. Das heißt: Zweisprachler bleiben im Durchschnitt viereinhalb Jahre länger demenzfrei im Alter als einsprachige Personen. Wohl wegen der stärker verschalteten Netzwerke im Gehirn: Das dichtere Neuronen-Netz kann Schädigungen eher tolerieren und noch länger weiterarbeiten. „Mehrsprachigkeit schult außerdem wichtige Kompetenzen wie Aufmerksamkeit und Konzentration – was man ja braucht, wenn man öfters mal von einer Sprache in die andere umschaltet. Einen Nachteil sehe ich im Arbeitsaufwand. Wenn kleine Kinder in ein fremdes Land mit neuer Sprache kommen, kann es auch mal Überforderungssituationen geben.“
Zeit nehmen für den Übergang
Davor möchten Gabriela und Michael Block ihre Kinder bewahren. Sie bringen ihnen nicht alle Sprachen bei, die sie selber beherrschen. Und geben ihnen Zeit für den allmählichen Übergang. Noch dominiert Englisch. Auf einer weißen Magnettafel hat Felix mit rotem Marker Mamas Planungsliste für seine Geburtstagsparty ergänzt. „Bake a cake“ steht da und „buy lomitos“. Gekauft werden soll Rindfleisch, um „Lomitos“, traditionelle argentinische Häppchen herzustellen. Noch ist es still auf der großen Wiese hinter dem Haus. Auf dem Gartentisch wird schwarzer Tee serviert, in Tassen mit der Aufschrift „Ich bin ein Berliner!“ Die Blocks sind auf dem besten Weg.
Simon Lewis und Helena Reut ebenso. Die 34jährige Künstlerin steckt voller beruflicher Pläne. Schon jetzt arbeitet sie an einer neuen Bilderserie, möchte Kinderbücher illustrieren. Seit ihrer Ankunft hat sie drei Ausstellungen organisiert. „Berlin ist ein wunderbarer Platz für Künstler“, schwärmt Helena, die selbst intensiv Deutsch lernen möchte, sobald Gabriel in die Kita kommt - eine rein deutschsprachige, um die Sprache „gleich richtig“ zu lernen. Denn in einer Hinsicht sind sich alle einig: Deutschlernen funktioniert am besten in der Umgebung von Muttersprachlern - also in Kita und Schule.
Eine alltägliche Erfahrung für Alessia, Luciana, Felix, und Dominic. Dessen Mutter das Thema auf den Punkt bringt: „Der Vorteil mehrerer Sprachen ist doch klar: Man lernt einfach mal ein paar davon völlig kostenlos!“, sagt sie lachend und fügt ernst hinzu: „Sprachen erweitern den Horizont des Menschen, öffnen seinen Geist!“