Ursula Gärtner ist Sozialpädagogin und Erziehungsberaterin bei der Erziehungs- und Familienberatungsstelle der Diakonie in Reinickendorf. Seit vielen Jahren hält sie Vorträge zum Thema Pubertät und gibt Workshops für Eltern pubertierender Jugendlicher. Hier ihre Tipps und Antworten:
Ist die Pubertät eine Krankheit?
Die Pubertät ist ein normaler Prozess in der Entwicklung vom Kind hin zum Erwachsenen. Neurobiologisch findet im Gehirn aber ein großer Umbau statt. Die Hormone setzen viel in Bewegung. Das führt zu einer Unausgewogenheit zwischen Denken und Fühlen. Dabei kann es zu emotionalen Extremzuständen kommen: von der depressiven Verstimmung bis hin zu starkem Egozentrismus. Die Jugendlichen überschätzen sich und glauben: Ich kann alles, ich weiß alles besser. Sie sind wie im Taumel, etwa, wenn sie verliebt sind. Das Zwischenhirn, wo das Belohnungszentrum sitzt, will kurzfristige, schnelle Befriedigung. Nach dem Motto: Es macht Spaß. Die Kinder haben eine hohe Risikobereitschaft. Sie brauchen den Kick. Die Suchtgefahr ist erhöht.
Wie äußert sich der Ausnahmezustand im Alltag?
Es kann sein, dass ein Kind Dinge, die längst selbstverständlich waren, nicht mehr macht. Zum Beispiel das Zimmer aufräumen. Manchmal liegt das daran, dass gerade andere Themen wichtiger sind. Eltern müssen wissen, dass die Jugendlichen auch viele Ängste haben und leicht in Stress geraten. Wenn die Eltern kommen und sie mit ihren – häufig berechtigten – Forderungen zusätzlich unter Druck setzen, kommt es leicht zu explosionsartigen Wutausbrüchen. Mit den Kindern Schritt zu halten, ist nicht einfach. Die Entwicklung verläuft sprunghaft und unkoordiniert.
Welches sind die häufigsten Anliegen von Eltern?
Ähnlich wie die Trotzphase bringt auch die Pubertät Eltern häufig an ihre Grenzen. Es geht um Macht und Ohnmacht. Ein typisches Zeichen für die Pubertät sind Machtkämpfe. Sie entzünden sich an konfliktträchtigen Themen wie provozierender Kleidung oder Computer- oder Handynutzung. Vor allem Mädchen sind ständig in sozialen Netzwerken unterwegs. Jungen neigen eher zu problematischem Computerspielverhalten. Weitere Konfliktstoffe: Übernachten bei Freunden, Tattoos, Schminken, Sexualität, Drogen, Rauchen oder Schulverweigerung. Es geht darum, Grenzen auszutesten, den eigenen Weg, die eigene Persönlichkeit zu finden.
Ab wann dürfen Jungen und Mädchen zusammen übernachten?
Das ist eine Frage des Vertrauens und der Aufklärung. Geschlechtsverkehr unter 14 ist verboten. Danach dürfen Eltern es dulden, wenn das Kind es seelisch verkraftet.
Was sollten alle Eltern wissen?
Diese Phase geht vorüber! Auch, wenn Sie sich noch so erschöpft und ohnmächtig fühlen. Nehmen Sie es nicht persönlich, wenn Ihre Kinder Sie doof und peinlich finden. Sie suchen jetzt nach neuen Leitbildern und identifizieren sich mit ihrer Peergroup. Das Modell der Eltern lehnen sie ab. Sie müssen ihr eigenes Moralsystem entwickeln. Schwierig wird es, wenn Eltern problematisches Verhalten ihrer Kinder verharmlosen. Wenn diese nur vor dem Computer sitzen und keine Kontakte haben. Wenn sie lügen, stehlen oder die Schule schwänzen. Manchmal ist der Beginn der Pubertät sehr heftig, andere sind Spätentwickler. Lehrer sagen, in der 7. und 8. Klasse ist es am schlimmsten.
Ihr Rezept für gestresste Eltern?
Lassen Sie sich nicht provozieren von Türenknallen oder Sprüchen wie „Chill mal!“. Gehen Sie in akuten Stresssituationen nicht in den Machtkampf. Dann gibt es nur Verlierer. Atmen Sie erst einmal tief durch und beruhigen Sie sich. Rollen Sie das Thema erst später wieder auf, wenn Sie nicht mehr im Kampfmodus sind. Damit sind Sie auch Ihren Kindern ein gutes Vorbild. Übrigens verläuft nicht jede Pubertät heftig. Wenn Sie zu Ihrem Kind schon immer ein vertrauensvolles Verhältnis hatten und dieses relativ selbstständig war, sind das gute Voraussetzungen. Generell gilt: Nicht zu sehr kontrollieren, nicht zu sehr loslassen. Und nicht zuletzt: Humor bewahren!
Brauchen Jugendliche ihre Eltern überhaupt noch?
Auf jeden Fall. Körperlich und neurobiologisch explodieren sie zwar: Ich kann, ich will. Aber sie haben noch keine wirkliche Realitätseinschätzung. Sie brauchen keine Reglementierungen oder Drohungen, aber eine haltgebende Struktur. Einen sicheren Hafen. Oft protestieren sie zwar erst einmal. Aber es ist immer wieder berührend zu sehen, wie sehr sie sich eine solche Schutzzone wünschen. Eltern sollten ihnen das Angebot machen: Wenn etwas ist, kannst du immer kommen. Oder ihnen gegebenenfalls andere Anlaufstellen vermitteln. Manchmal brauchen aber auch die Eltern Hilfe. Sie müssen gut für sich sorgen können, denn die Kinder gehen irgendwann eigene Wege. In der Erziehungsberatung helfen wir ihnen dabei. Denn starke Eltern haben starke Kinder.
Wie gelingt das Abnabeln für Eltern und Kinder am besten?
Es ist ein Prozess. Eine Balance zwischen Vertrauen und Kontrolle nach dem Motto: „Wenn ich dir vertrauen kann, bekommst du mehr Freiheiten“. Ob das Vertrauen gerechtfertigt ist, muss immer wieder überprüft und neu ausgehandelt werden. Will ein Jugendlicher mit seinen Freunden alleine verreisen, muss ich mich fragen: Kann er Gefahren einschätzen? Kann ich mich auf ihn verlassen? Ist er unausgeschlafen und bekommt schlechte Noten, muss er früher ins Bett. Freiheit ja, aber in Grenzen. Verallgemeinerungen sind schwierig. Strenge Eltern können genauso wie großzügigere einen guten Job machen.
Und wozu ist der ganze Stress gut?
Die zentrale Entwicklungsaufgabe der Pubertät ist die Entwicklung der eigenen Identität. Das ist wichtig, um später das eigene Leben selbstständig meistern zu können. Wir dürfen übrigens auch nicht vergessen, dass die Pubertät auch eine sehr ressourcenreiche Zeit sein kann. Eine Zeit des Aufbruchs und der sprühenden Lebenskraft. Mit 20, 21 ist die Gehirnentwicklung weitgehend abgeschlossen. Dann wird es wieder ruhiger.
Einen Überblick über Erziehungs- und Familienberatungsstellen in Berlin gibt es im Internet unter www.efb-berlin.de