Dr. Peter Walschburger ist Professor an der Freien Universität Berlin. Für das Telefon-Interview hat sich der frühere Rennskifahrer im Skiurlaub in Österreich kurz von der Piste zurückgezogen. Wir wollten von ihm als Biopsychologen wissen, warum der Mensch zum Jahresende so viel Rückschau betreibt.
Berliner Morgenpost: Warum blickt ein Mensch überhaupt zurück – tut das gut?
Peter Walschburger: Was den Menschen im Vergleich zu anderen Lebewesen als einziges auszeichnet, ist nicht die Sprache, sondern dass er eine zeitlich überdauernde Perspektive entwickelt. Wenn wir nur im Hier und Jetzt leben würden, nur im Augenblick, dann würde viel Belastendes, aber auch viel Schönes verschwinden. Wir können aber in die Vergangenheit blicken und die Zukunft erahnen. Das ist eine menschliche Leistung. Ein Tier kann nicht ein Jahr oder sein ganzes bisheriges Leben betrachten, es kennt keine Biografie. Diese Betrachtungen am Jahresende sind ein Ritual. Das Jahresende kommt uns vor wie eine Zäsur. Das ist willkürlich gemacht: Die Menschen haben sich darauf geeinigt, aber es hat mit den saisonalen Rhythmen der Natur zu tun. Alle Menschen schaffen sich solche Rituale des Rückblicks und des Vorausblicks – man denke an die Neujahrsgrüße, mit denen man Hoffnungen und Wünsche formuliert. Aber das kommt erst noch.
Muss man im Rückblick seine Vergangenheit bewältigen – wie macht man’s richtig?
Besinnlichkeit tut dem Menschen immer gut. Ein Rückblick ist wie ein Rahmen, den verschiedene Personen unterschiedlich sinnvoll gestalten. Ich gebe ihnen ein Beispiel. Ich habe mir Jahresrückblicke von zwei Fernseh-Moderatoren angeschaut. Beide haben aus meiner Sicht sehr Oberflächliches in den Vordergrund gerückt, wie den Gangnam Style, zu dem auch ich rocke, oder die spontane Tanzeinlage einer Frau an einer Londoner Bushaltestelle, ein Fall, der im Internet zu hohen Click-Raten geführt haben. Das finde ich zu schwach. Der Mensch kann mehr. Er entwickelt als einziger ein reflexives Verhältnis zu sich selbst, er kann sich wie ein Objekt betrachten und dabei eine überdauernde Perspektive zu sich selbst, eine personale Identität entwickeln. Das macht den Urgrund der Rückblicktendenzen aus. Wenn man Vergangenes gut bewältigt hat, ist ein Aspekt, beantworten zu können, wie etwas Bestimmtes geschehen konnte und wie ich es bewältigt habe.
Kann ein Rückblick schaden?
Alles, was wir tun, kann schaden oder nützen. Es gibt verpasste Lebensziele: etwa, wenn jemand, der 40 Jahre alt ist, zurückblickt und feststellt, dass er zwar Karriere gemacht hat, aber weder Partner noch Kinder hat. Wenn er dann nur sehnsuchtsvoll über verpassten Chancen brütet, wirkt das eher schädlich. Es gibt Zustände bei Menschen, in denen sie nur noch grüblerisch einer Sache nachtrauern, die nicht mehr realistisch wahrgenommen wird, oder auf Vorbilder schauen, die keine sind, sondern nur Idole – Sternchen, die man aus der Ferne anhimmelt. An sich ist der Mensch so angelegt, dass er in seiner Fantasie bei guten Erinnerungen bleibt, nicht bei schlechten. Aber es gibt eben auch grüblerische Schwarzseher, die an verpassten Chancen kleben.
Wie lernt man aus der Vergangenheit, anstatt an ihr „kleben“ zu bleiben?
Um beim Vorbild zu bleiben: Man sollte jemanden auswählen, der so ähnlich lebt wie man selbst, mit ähnlichen Fähigkeiten, Alter und Beruf, und sich fragen: Was kann ich von ihm oder ihr lernen? Es kommt darauf an, mit einem Schuss Optimismus tatkräftig und zukunftsorientiert mit dem Rückblick umzugehen. Man sollte in Betracht ziehen, was man Gutes getan und erlebt hat, seine Talente ausspielen und das mit dem nötigen Realitätssinn. Doch da man vor allem aus Fehlern lernt, sind die so schlecht gar nicht.
Unterscheiden sich Menschen in ihren Rückblicken je nach Alter oder sozialer Stellung?
Absolut. Das Baby hat noch gar keinen Rückblick, das lernt es erst später, ab etwa vier Jahren. Erst bei Erwachsenen, die sich der Verantwortung in ihren verschiedenen Rollen bewusst werden, wird ein Rückblick bedeutsam. Man lernt, dass das Muttersein oder der Beruf zur eigenen Identität gehört. Diese kann man nicht einfach abschütteln. Es entwickelt sich mehr und mehr ein Bewusstsein, dass ich einen Kern habe, dass ich dieselbe Person bleibe – egal, was sich äußerlich ändert. Alte Menschen wiederum haben fast nur noch Rückblick und wenig Ausblick. Ältere sind häufig zufriedener, wenn sie zurückblicken. Denn sie wissen aus Erfahrung, was ihnen gut tut, und streben keine unrealistischen Ziele mehr an. Ich persönlich will zum Beispiel nicht der Nachfolger der Bundeskanzlerin werden, hätte das mit neun Jahren aber vielleicht anders gesehen.
Muss man die Retrospektive an das Jahresende binden, ist es nicht zu viel: ein ganzes Jahr?
Der Jahresrückblick ist eine gesellschaftlich institutionalisierte Gelegenheit – ähnlich wie Weihnachten – zu solchen sozialen und persönlich wichtigen Aktivitäten. Man sollte die Bedeutung solcher Rituale nicht unterschätzen: Sie bieten Menschen die Möglichkeit, sich zu versammeln, auszutauschen und über sich nachzudenken.