Steglitz-Zehlendorf. Der Lastenfahrstuhl fährt nur bis in den vierten Stock, dann geht es noch eine Treppe hinauf bis zu einer schweren Eisentür mit der Aufschrift: „Das Betreten der Dachflächen ist für unbefugte Personen strengstens untersagt.“ Andreas Frädrich ist befugt, er hat den Schlüssel zu der Tür. Draußen reißt der Wind das Wort von den Lippen, die Sonnenstrahlen prallen mit voller Kraft auf das Dach. „Wind und Hitze – das sind die besten Voraussetzungen für einen Salzgarten“, sagt Frädrich.
Sein Start-up befindet sich 61 Meter über dem Meeresspiegel auf dem Dach das Goerzwerkes in Lichterfelde. Dort betreibt der Landschaftsgärtner eine Anzuchtanlage für Meerespflanzen. Es ist ein Experiment, ein Versuchsfeld – ob Salzwiesenkräuter und Urgemüse auch in Berliner Lagen gedeihen.
Berliner Urban Farming auf Lichterfelder Dach
Nicht nur Sonne und Wind lassen das Gefühl aufkommen, sich am Meer zu befinden. Ein Holzsteg, über den man sonst durch die Dünen zum Wasser läuft, verbindet die Beet. Dort stehen Pflanzen, die salzige Böden, wie sie am Mer vorkommen, nicht nur vertragen sondern auch mögen.
Das sind zum Beispiel auf der einen Seite Austernpflanzen, Liebstöckel, Löffelkraut, Meerkohl, Agretti – auch Salzkraut genannt, und Salzmelde – also Gemüse und Kräuter. Und auf der anderen Seite verschiedene Kartoffelsorten. Die baut Frädrich in chinesischen Kartoffelkisten an. Darin werden die Triebe gestapelt und immer wieder neu mit nährstoffreicher Erde bedeckt. Es sind verschiedene Sorten, darunter deutsche, holländische und kanarische, die besser mit salzigen Böden zurecht kommen. Am Ende des Feldexperiments mit den Kartoffelkisten könnte eine neue Art stehen. „Vielleicht kommt bald die Goerzwerk-Kartoffel in Berlin auf die Teller“, sagt der 50-Jährige.
Andreas Frädrich zieht Meeresgemüse
Gedüngt wird der etwa 400 Quadratmeter große Garten nur mit Seetang oder Treibselsand von der Ostsee – beides Abfallprodukte von der Strandreinigung, die sonst auf dem Müll landen würden. Besonders wohl fühlt sich unter diesen Bedingungen die Salicorne, auch Queller, Meeresfenchel oder -spargel genannt. Es ist ein Meeresgemüse mit fleischigen Sprossen, das sich zum Beispiel bestens als Salat eignet.
Frädrich lädt zu einer kleinen Verkostung ein: eine Handvoll Salicorne in die Schüssel, etwas Öl darauf – fertig ist der Salat. Die Pflanze hat einen salzigen Eigengeschmack und ist knackig und erfrischend. Im Handel sei sie oft an Fischtheken zu finden, klärt der Landschaftsgärtner auf. Meistens werde sie aus Frankreich, Isreal, Portugal oder Mexiko eingeführt. Er sei einer der wenigen, der sie im Binnenland anbaut, vielleicht sogar der einzige, sagt Frädrich. Das edle Gemüse ist nicht ganz billig, zwischen 20 und 30 Euro koste ein Kilogram, so der Pflanzenexperte.
Fasziniert von der Idee des Urban Farming
Auf die Idee des Salzgartens kam er nicht zuletzt, weil die Spitzengastronomie immer nach neuen Trends sucht. „Farm-to-table“ – diese Bewegung, die nur ganz regionale Produkte auf den Tisch bringt, wolle er unterstützen. Zudem hätten ihn schon immer Dachgärten und das Konzept des „Urban Farming“ fasziniert.
Auf diesem Gebiet gebe es in Berlin einen „extremen Nachholebedarf“, sagt Frädrich, der in Zehlendorf aufgewachsen ist und heute in Tegel lebt. Und natürlich gehe es nicht zuletzt darum, Dächer sinnvoll zu nutzen. Dass er sein Projekt auf dem Dach der Goerz-werke realisieren hat, hat er einem Tipp aus der Start-up-Szene zu verdanken. Im Goerzwerk lege man Wert auf Nachhaltigkeit, hieß es, und so ist es auch.
Eigentümer der Goerzwerke stellt das Dach zur Verfügung
Der Eigentümer der Goerzwerke unterstützt das Projekt. Silvio Schobinger hat das Industriegebäude seit 2015 restaurieren lassen und in den historischen Lofts wieder Gewerbe, vor allem viele junge Start-ups, angesiedelt. Seit zwei Jahren sind die Hallen und Büros zu 95 Prozent vermietet. „Es gibt immer eine Fluktuation, denn manchmal gehen die Konzepte nicht auf“, sagt Schobinger.
An das Konzept des Dachgartens glaubt er, deshalb stellt er die Dachfläche zur Verfügung. „Diese innovative Idee passt super zu diesem Standort“, sagt Schobinger. Es werde etwas Besonderes ausprobiert, und das Dach eigne sich dafür. Warum soll man es also nicht nutzen? Außerdem sehe das grüne Dach viel schöner aus. „Andreas Frädrich hat die Sachkenntnis und den grünen Daumen“, sagt Schobinger. Deshalb solle demnächst noch eine weitere Dachfläche für den Anbau genutzt werden.
Pflanzen habe die erste Testphase überstanden
Jetzt geht es aber erst einmal darum, Kräuter und Kartoffeln zur Marktreife zu bringen. Ein Versuchsfeld habe den Bewährungstest bereits bestanden, sagt Frädrich. Er sei überrascht gewesen, wie zäh die Pflanzen der Hitze stand gehalten haben. Im August steht die erste größere Ernte an. Künftig will Andreas Frädrich seine Kartoffeln, Kräuter und weiteres Gemüse, wie Kohl, Rucola und Meerrettich in der Markthalle Neun in Kreuzberg anbieten.
Am Stand wird er auch Meerkohl haben, eine fast vergessene Gemüsesorte, die am besten schmeckt, wenn sie einfach nur blanchiert wird. „Dazu habe ich alte Rezepte von der Küste“, sagt Frädrich. Das Wissen wolle er gern weitergeben.
Andreas Frädrich zieht bald auch Krabben
Ein neues Projekt ist schon in Arbeit. In einem kleinen Häuschen auf dem Dach steht bereits ein großes Glasbecken. Darin werden schon bald Krabbben leben. Mit dem Salzwasser sollen dann die Felder gegossen und gedüngt werden. „Aquaponik“ – so das Konzept – verbindet Techniken der Aufzucht von Fischen in Aquakultur und der Kultivierung von Nutzpflanzen mittels Hydrokultur.
Eins ist sicher: Oben auf dem Dach ist sein Garten sicher. Wildschweine werden ihn garantiert nicht plündern.
Goerzwerk-Fest
Am Sonnabend, 24. August, wird im Goerzwerk in Lichterfelde an der Goerzallee 299 ein Hoffest ab 11 Uhr mit Musik und Gastronomie veranstaltet. Von 12 bis 23 Uhr spielt entweder Live-Musik oder ein DJ legt auf. In einem großen Pool können sich Besucher im Stehpaddeln ausprobieren. Es gibt einen E-Bike-Parcour, Pony-Reiten wird von 15 bis 18 Uhr angeboten. Im Hof wird ein Charity-Trödelmarkt veranstaltet.
Auf dem Fest präsentieren sich die im Goerzwerk ansässigen Unternehmen. Auch Andreas Frädrich wird mit einem Stand dabeisein. Besucher können an Führungen durch das historische Fabrikgebäude teilnehmen und sich die neuen restaurierten Hallen und Büros ansehen. In der Zeit von 1915 bis 1917 ließ Carl Paul Goerz die Backsteingebäude für die Herstellungen von optischen Geräten erbauen. Das Areal ist heute ein Denkmal deutscher Industriekultur.