Berlin. Montagabend – eine schlechte Zeit, um im Nord-Berliner Berufsverkehr pünktlich nach Hause zu kommen. Dann befindet sich Pankow im Ausnahmezustand, ausgelöst durch ein buntes Bündnis um „Captain Future“. Mit umgedichteten Schlager-Songs, Spielzeug-Sirenen und unter Gebrüll verschwörerischer Thesen zieht der Tross des gelb-maskierten Corona-Skeptikers vom Pankower Anger zur Gethsemanekirche. In den Straßen flackert das Blaulicht der Polizei-Eskorte. Sehr zur Freude des „Captain“, der per Lautsprecher verkündet: „Ich liebe es, wenn ich den Rechtsstaat vor mir sehe.“
Nach Kampfansagen gegen Impfungen und einer Putin-treuen Auslegung des Ukraine-Kriegs lässt der Querdenker-Korso Passanten jetzt mit einem neuen Gedankenspiel zusammenzucken: Ein spontan gedichteter Song legt nahe, dass die Bundesregierung ein neues Virus für die Einführung einer neuen Impfkampagne inszeniert: „Wer hat die Affenpocken gebracht? Wer hat die Affenpocken gebracht? Ich sag: Herr Lauterbach“, schallt es in schiefem Reim aus dem Megafon. „Captain Future“ kann sich das Lachen über die kreative Textfindung mit Fokus auf den SPD-Gesundheitsminister selbst nicht verkneifen.
Pankows Querdenkerszene kokettiert mit der Infektionsgefahr
Diesmal läuft er an der Seite des bekannten Verschwörungstheoretikers „Björn Banane“. Auch er bewandert im Umdichten von Pop-Songs zugunsten einer alternativen Weltsicht, die Wissenschaftlern eine Gänsehaut bereitet. „Wir sind die rote Linie“ lautet „Bananes“ aktueller Titel – in der Annahme, dass Eliten unter dem Vorwand des Kampfs gegen Infektionskrankheiten, absichtlich Menschenrechte beschneiden.
In diesem Sinne sehen sich die Teilnehmer als frei aufgrund eines medizischen Status: ungeimpft. „Infektionsgefahr!“ schreit „Captain Future“ in den Lautsprecher. Ein Vater nimmt seine Tochter in den Arm und ruft: „Haut ab! Lasst euch impfen!“ Der „Captain“ umarmt hingegen einen Passanten, der sich über seinen gelben Superhelden-Dress amüsiert.
Am Zielort des Demonstrationszugs nach Prenzlauer Berg, an der Gethsemanekirche, ist Pfarrerin Aljona Hofmann eher nicht nach Lachen zumute. Hier formiert sich jeden Montag ab 17.30 Uhr die Gegenbewegung zu diesem Spektakel. Unverdrossen verteidigt eine Kiezinitiative den Symbolort für die friedliche Revolution von 1989 gegen die Behauptung, Deutschland befinde sich 2022 wegen Corona-Infektionsschutz und einer russlandkritischen Haltung im Ukraine-Krieg wieder in einer Diktatur.
Aufklärerische Plakate sind selbst im linksliberalen Prenzlauer Berg nicht sicher
Seit sechs Monaten kann sich Hofmann bei ihren Fürbitten für die Inhaftierten von Diktaturen in der Kirche des Beistands der Nachbarn versichern. Neuerdings aber ohne das markante, anti-verschwörerische Banner an der Kirchenfront mit dem Ausspruch: „22 ist nicht 89. Wir leben in keiner Diktatur!“. Sowohl die Pfarrerin als auch Wiebke, eine Sprecherin der Kiezgemeinschaft, können sich den Verlust des Banners nicht anders erklären als durch einen Diebstahl. „Offenbar wurde es geklaut“, stellt Wiebke fest.
Ein bedauerlicher, aber nicht überraschender Vorfall – denn regelmäßig findet die Initiative über Nacht beschmierte oder zerstörte Überreste von kleineren Plakaten am Kirchenzaun. Sie enthalten Aussagen, die sich gegen Verschwörungsglauben, aber auch für die Solidarität mit der Ukraine. Zeichen für eine aufgeklärte Weltsicht, die selbst in einem linksliberalen Kiez von Prenzlauer Berg nicht lange stehen bleiben. Wie die Nachbarn eingestellt sind, zeigt sich wohl am ehesten daran, wie sie auf solche Beschädigungen reagieren.
17 Anrainer spendeten Geld für ein neues Banner an der Gethsemanekirche
So, wie die zerstörten Plakate ersetzt werden, so geschieht es jetzt auch mit dem wichtigen Haupt-Banner an der Kirche. 17 Geschäfte und Anrainer aus Prenzlauer Berg hätten 300 Euro gespendet, um es zu ersetzen, erzählt Pfarrerin Hofmann. Wenn alles gut läuft, kann die Druckerei das neue Banner bis zum kommenden Montag liefern. Übergangsweise fertigten die Nachbarn ein selbst gemaltes Duplikat. Was der Pfarrerin Mut verleiht, ihre Montagabend-Fürbitten fortzusetzen: „Das gibt einen Eindruck davon, dass unsere Kiezgemeinschaft zusammenhält.“
Eintracht, herbeigeführt in Abgrenzung zu den „Querdenkenden“, wie Hofmann die herannahende Gruppe um „Captain Future“ bezeichnet. Während die Initiative für die Verteidigung der Gethsemanekirche jeden Montag um 17.30 Uhr zusammentritt, gehört der Platz ab 19 Uhr den Verschwörungsgläubigen. „Es wurde als Demonstration angemeldet. Das ist halt Demokratie“, kommentiert die Pfarrerin den Vorgang auf neutrale Weise.
Demonstranten von der Gethsemanekirche und „Captain Future“ streiten um Freiheit
Für Wiebke ist es umso wichtiger, an der eigenen Veranstaltung festzuhalten und noch mehr Unterstützer zu animieren, die „Querdenkenden“ mit Fakten zu widerlegen. Für den 13. Juni hat man Marianne Birthler als Rednerin gewonnen – Besucher dürfen also eine Ansprache erwarten, die zur Aussage des gestohlenen und wiederhergestellten Banners passt. „Wir finden uns hier zusammen, weil wir diesen Ort, der für Freiheit steht, beschützen wollen“, betont Wiebke.
Ein Freiheitsbegriff, völlig konträr zum Freiheitsbegriff des „Captain Future“ und „Björn Banane“. Nach Corona und Ukraine will ihr Aufmerksamkeits-Zirkus nun auch das neue Schlagwort Affenpocken besetzen. Unter Gesundheitsminister Jens Spahn hätte es Einschränkungen wegen dieser Infektion kaum geben, ruft einer der Querdenker-Demonstranten, als er vom Bahnhof Pankow in Richtung Kirche schreitet – und ist sich nicht zu schade, die Sache in einen homophoben Kontext zu setzen. Für ihn ist die Verbreitung der Affenpocken allein ein Phänomen der gleichgeschlechtlichen Liebe. Eine Sache für Jens Spahn.
Pankows Corona-Skeptiker haben ein Jesus-Bild im Gepäck
Dass Gott alle Menschen liebt, ist für den Pankower Tross ein Anlass, um auch am nächsten Montag mit einem Jesus-Bild bis zur Gethsemanekirche zu ziehen. In der Annahme, dass Affenpocken inszeniert sind und Deutschland befinde sich wieder in einer Diktatur.
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