Berlin. Verkauf und Enttäuschung: Die Bewohner des Hauses Hermannstraße 48 haben einiges durchgemacht. Nun gibt es eine zweite Chance.

Vor fast einem Jahr kippte das Bundesverwaltungsgericht das Vorkaufsrecht. Die Bezirke verloren ein wichtiges Instrument zum Mieterschutz. Die Bewohner des Gebäudekomplexes an der Neuköllner Hermannstraße 48 traf die neue Rechtslage hart. Sie fürchteten seitdem täglich, die Kündigung der neuen Eigentümer zu erhalten.

Im Ensemble, zu dem ein Quergebäude gehört, war in bester Berliner Tradition früher auch verarbeitendes Gewerbe angesiedelt. Unter den heute rund 130 Bewohnern leben etwa 70 in Wohngemeinschaften auf diesen ehemaligen Werkstattflächen im Hinterhaus – also in Räumen, für die eine baurechtliche Nutzung als Gewerbe festgeschrieben ist. Bei einem späteren Rechtsstreit sollte dieses Detail eine Schlüsselrolle spielen.

Heute eine begehrte Wohngegend

Zunächst erfuhren die Bewohner am 21. Dezember 2020 vom Bezirksamt, dass ihr Haus verkauft werden soll. Es liegt im Milieuschutzgebiet. Deshalb kann der Bezirk durchsetzen, dass der neue Käufer sich in einer sogenannten Abwendungsvereinbarung zu einer Reihe von Mieterschutzmaßnamen verpflichtet. Lehnt er das ab, kann ihm ein anderer Käufer vorgesetzt werden.

Die Hausgemeinschaft war aber gerüstet, ein Verein gegründet. „Knapp ein Jahr zuvor ist der Hausverein bereits vergebens mit einem Kaufgesuch an die Eigentümerin herangetreten, die aber leider empört ablehnte“, sagt Bewohner Simon Duncker (33).

Nun sah man um so mehr Anlass, zu handeln. Einer WG war schon von der bisherigen Eigentümerin gekündigt worden. Der einst arme Schillerkiez, in dem sich Menschen bei günstigen Mieten „eine eigene Welt zusammenbauen konnten“, so Duncker, war zur begehrten Wohngegend geworden. Quadratmeterpreise wie im Quergebäude, die zwischen zwischen sechs und sieben Euro kalt liegen, sind veraltet. Im Haus fürchtete man den Rauswurf, begünstigt durch die Mietverträge, bei denen es sich nur um Gewerbemietverträge mit der Erlaubnis teilweiser Wohnnutzung handelt.

Kaufpreis: Niedriger zweistelliger Millionenbereich

Während das Bezirksamt Kaufinteressenten unter den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften suchte, recherchierten die gut organisierten Mieter gemeinwohlorientierte Genossenschaften, die bereit wären, den Deal zu übernehmen. Eine Kaufsumme im niedrigen zweistelligen Millionenbereich war aufgerufen, sagt Duncker.

Stadtentwicklungsstadtrat Jochen Biedermann (Grüne).
Stadtentwicklungsstadtrat Jochen Biedermann (Grüne). © Maurizio Gambarini

Vereint mit der Beteiligungsgesellschaft „Mietshäuser Syndikat“, gelang den engagierten Mietern, per Privat- und einem großen Bankkredit die geforderte Summe zusammenzubringen.

Widerspruch gegen den Vorkauf

Doch die Freude im Haus währte kurz. Verkäuferin und Käufer widersprachen im März 2021 und legten Klage gegen den Bezirk ein. Unter anderem fochten sie die Abwendungsvereinbarung an, die sie dazu verpflichtet hätte, die WGs als Wohnraum anzuerkennen. So blieb der erhoffte Kauf in der Schwebe.

Noch bevor der Rechtsstreit ausgetragen war, erreichte die Bewohner die nächste schlechte Nachricht: Am 9. November 2021 stoppte das Bundesverwaltungsgericht das Vorkaufsrecht in Milieuschutzgebieten. Für viele im Haus sei das „einem Schlag ins Gesicht“ gleich gekommen, sagt Duncker.

Die gekündigte WG stand leer

Im April 2022 kündigte der Bezirk an, den Vorkaufsbescheid für das Haus zurück zu ziehen. Die juristische Bewertung des Falles sei letztlich nicht eindeutig und die weiteren Prozessrisiken und damit verbundenen Kosten zu hoch gewesen, erklärte Stadtentwicklungsstadtrat Jochen Biedermann (Grüne) gegenüber der Morgenpost. Schadensersatzansprüche konnten ebenfalls nicht ausgeschlossen werden. Der Brief mit der Information, man habe einen neuen Eigentümer, kam Ende Juni 2022, sagt Duncker.

„Da wir im Fabrikgebäude auf dem Papier nur mit Gewerbemietvertrag wohnen, bestand ab dem Zeitpunkt jeden Tag die Möglichkeit, dass uns gekündigt wird und wir binnen drei bis sechs Monaten raus müssen“, sagt Duncker. Das sieht man auch im Bezirksamt so: Da die Bewohner nur Gewerbemietverträge haben, sei „ihre Lage damit rechtlich sehr prekär“, teilt Biedermann mit. Mancher Nachbar zog seitdem aus, gerade Nachbarn mit Kindern ertrugen die Ungewissheit nicht. Und die Absichten des Eigentümers waren undurchschaubar: Die gekündigte WG stand weiterhin leer, ebenso die ehemaligen Räume eines geschlossenen Tischlereibetriebs.

Neue Verhandlungen mit dem Eigentümer

In scheinbar aussichtsloser Lage erfuhren die Bewohner laut Duncker dieser Tage allerdings, dass der neue Eigentümer schon wieder verkaufsbereit sei. Ob die derzeitigen Bedingungen für Bauvorhaben oder langwierige Auseinandersetzungen bei möglichen Kündigungen der WGs den Neubesitzer schreckten, darüber will er nicht spekulieren. Sicher sei, dass die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft „Stadt und Land“ und der Senat sich in Verhandlungen mit dem Eigentümer befinden. „Wir wünschen uns, endlich in gemeinwohlorientierte Hände zu gelangen“, resümiert Duncker.

Im Rückblick sagt er: „Wäre das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts nicht gekommen, hätten wir die Gebäude selbst kaufen können.“ Was immer der Ausgang der aktuellen Verhandlungen ist, habe ihm der Konflikt gezeigt, was eine Hausgemeinschaft erreichen kann und wie sich Eigentumsverhältnisse in einer Stadt zu Gunsten ihrer Bewohner verändern lassen.

„Katastrophale Auswirkungen der Immobilienspekulation“

Seitens Stadtrat Biedermann indes heißt es, dass weiterhin alle Verkäufe in Milieuschutzgebieten darauf geprüft, ob nach der neuen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Ausübung des Vorkaufsrechts möglich ist. „Wir brauchen aber dringend ein rechtssicheres neues Vorkaufsrecht – und das so schnell wie möglich“, so Biedermann. „Es war in den vergangenen Jahren eines der wichtigsten und erfolgreichsten Instrumente gegen die katastrophalen Auswirkungen der Immobilienspekulation.“

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