Berlin. Auf Kazim Erdogan hört man im Bezirk. Man nennt ihn hier den „Kalif von Neukölln“. Nun hat der Sozialarbeiter ein neues Projekt.

Vom Klischee her würde Kazim Erdogan ganz hervorragend nach Neukölln passen: Eingewandert vor rund 45 Jahren aus Anatolien, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen, ohne Ausbildung oder Studienabschluss. Noch heute spricht er mit hörbar türkischem Einschlag. Und auf der Straße erkennen ihn die Leute, grüßen ihn ehrergiebig mit dem Titel „Kalif von Neukölln“.

Doch Kazim Erdogan ist nicht etwa, wie sich jetzt vielleicht vermuten lässt, ein berüchtigter Clan-Boss. Nein. Der 65-Jährige ist Sozialarbeiter und Psychologe.

Wie ein kalter Februartag zum prägenden Erlebnis wurde

13 Jahre lang, von 20003 bis 2016, arbeitete Erdogan beim psychosozialen Dienst im Bezirksamt Neukölln. Aber eigentlich kümmerte er sich schon viel länger um seine Mitmenschen. Genauer gesagt seit einem kalten Februartag im Jahr 1974. Damals, als Erdogan nach Deutschland kam, hatte er ein prägendes Erlebnis. Spricht er heute davon, nennt er es die wichtigste Anekdote seines Lebens.

„Ich bin im Februar 1974 mit dem Bus von Istanbul bis nach München gefahren. Drei Tage, drei Nächte. Geld für ein Flugticket hatte ich nicht. Von München aus wollte ich weiter nach West-Berlin. Mit dem Zug, aber ich war der deutschen Sprache nicht mächtig, der englischen auch nicht. Eine Dreiviertelstunde habe ich auf dem Bahnsteig gewartet. Je länger ich wartete, desto mehr zitterte ich am ganzen Körper. Es war ein kalter Februartag. Ich hatte auch keinen Mantel an – wirklich, ich bin fast erfroren“, erinnert sich Erdogan und umschlingt bei der Erinnerung daran seine Arme um seinen Körper.

Kazim Erdogan in seinem Arbeitszimmer in Neukölln. Man nennt ihn den „Kalif von Neukölln“.
Kazim Erdogan in seinem Arbeitszimmer in Neukölln. Man nennt ihn den „Kalif von Neukölln“. © Reto Klar

„Ich will nach West-Berlin“ – „Na und?“

„Ich war 21 Jahre alt, und fühlte mich wie ein dreijähriges Kind. Hilflos. Aber dann bin ich auf die Idee gekommen und habe mir gesagt: Komm, nimm deine Geschicke selbst in die Hand. Ich habe also einen schnurrbärtigen, schwarzhaarigen Gastarbeiter der ersten Gastarbeitergeneration gesucht. Nach 15 Minuten habe ich einen Mann gefunden, der so aussah. Er hat die Bahnsteige gefegt. Ich habe ihn gefragt: ‘Sind sie Türke?’ ‘Ja’, hat er gesagt. Ich habe gesagt: ‘Schön, ich will nach West-Berlin.’ Seine Antwort war: ‘Na und?’“ Erdogan muss laut lachen, als er sich an diesen Dialog erinnert.

„Ich habe dann gesagt: „Bruder, ich kann kein Deutsch, kannst du mir helfen, am Schalter eine Fahrkarte zu kaufen.“ Er hat das gemacht. Und als er Deutsch sprach am Schalter, dachte ich: „Mein Gott! Hut ab vor der Leistung dieses Mannes. Er spricht die deutsche Sprache besser als seine Muttersprache.“ Und, vor allem: Er war mein Lebensretter, mein Brückenbauer. Und schon während ich im Zug nach West-Berlin fuhr, habe ich mir gesagt: ‘Solltest du jemals in der Lage sein, anderen Menschen helfen zu können, zögere keine Sekunde.’“

Erdogan gründete Selbsthilfegruppe für türkische Männer

Sein Versprechen von damals an sich selbst hat Erdogan eingehalten. An der Freien Universität in Berlin belegte er Deutsch als Intensivsprachkurs, studierte Psychologie und Soziologie. Vor allem mit Schülern und Jugendlichen arbeitete Erdogan bis zu seiner Pensionierung vor einigen Jahren. Zuerst war er Hauptschullehrer, anschließend Schulpsychologe. Und kam so auch in Berührung mit den Vätern seiner Schützlinge.

Vor mehr als zehn Jahren gründete Erdogan dann eine Selbsthilfegruppe für türkischstämmige Männer in Neukölln. Zuerst im Rahmen seiner Arbeit beim Bezirksamt Neukölln, mittlerweile leitet Erdogan die Gruppe aber ehrenamtlich weiter.

Hier treffen sich Männer aus unterschiedlichen Generationen und mit verschiedenstem Hintergrund. Offen sprechen sie in den geschützten Räumen von Erdogans Verein „Aufbruch Neukölln“ in der Uthmannstraße über alle möglichen Themen: Liebe und Sexualität, Kindererziehung und Respekt, Ehe und Gewalt.

Mehr als 100 Teilnehmer in der „Vätergruppe“

„Schon als ich in den 1980er Jahren als Lehrer in einer Hauptschule gearbeitet habe, kamen zu den Elternversammlungen nur Mütter“, erinnert sich Erdogan. Schon damals habe er sich gefragt: Wo bleiben die Väter, warum kommen die nicht? Der 66-Jährige sagt: „Wir leben in einer vaterlosen Gesellschaft.“ Die Trennungs- und Scheidungsrate steige rapide an, ebenso die Zahlen der alleinerziehenden Mütter und Väter. „Eine Bildung und Erziehung ohne Väter, ist Bildung und Erziehung auf einem Bein“, attestiert Erdogan. „Und dass das nicht gut geht, weiß doch jeder von uns.“

Den türkischen Vätern wollte Erdogan damals deshalb „etwas anbieten“: Gespräche, auch über Privates – in der muslimischen Kultur bis heute oftmals noch ein Tabu. Nach dem ersten Treffen im Jahr 2007 kamen die Männer auf Erdogan zu. Mit dem Wunsch und der Bitte, sich von nun an regelmäßig zu treffen. Mittlerweile ist die „Vätergruppe“ international, mehr als 100 Teilnehmer aus verschiedenen Nationen hat sie insgesamt. Jeden Montag kommen sie zu Gesprächen zusammen.

Kazim Erdogan organisiert die erste bundesweite Sprachwoche.
Kazim Erdogan organisiert die erste bundesweite Sprachwoche. © Reto Klar

„Auch wenn nur drei Tropfen Tee drin sind, ist für mich das Glas immer noch halb voll“

Sich Kazim Erdogan anzuvertrauen, fällt nicht schwer. Er sagt Sätze wie: „Auch wenn nur drei Tropfen Tee im Glas sind, ist für mich das Glas halb voll“ oder „Ich habe immer meine vier Werkzeuge dabei – in meiner linken Hosentasche sind das gleiche Augenhöhe und eine verständliche Sprache, und in der rechten Hosentasche Verständnis und die Menschen dort abholen, wo sie stehen.“

Erdogan ist ein positiver Mensch durch und durch – und man glaubt ihm das auch. Selbst Rückschläge – und von denen gab es in seinem Leben einige, wie Erdogan erzählt – konnten ihn nie aufhalten.

Rückschläge? Für Erdogan sind das Herausforderungen

So wie damals, 2006, als der damalige Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) nicht die Schirmherrschaft für Erdogans erste „Woche der Sprache und des Lesens“ übernehmen wollte. Belächelt habe man ihn, als er die Idee hatte, in Neukölln – dem Problembezirk – sieben Tage voller Literatur, Diskussionsveranstaltungen, Lesungen, Märchenerzählungen, Theater, Musikveranstaltungen und so weiter zu organisieren.

Doch Erdogan lächelte zurück.

Er zog seine Idee durch, mehrere Hundert Teilnehmer sprachen für sich. Seitdem gibt es im Zwei-Jahres-Takt die Sprachwoche. 2012 wurde sie sogar ausgeweitet auf ganz Berlin. Und in diesem Jahr findet sie zum ersten Mal bundesweit statt. Die Schirmherrschaft 2019 hat übrigens Elke Büdenbender, Frau von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und First Lady von Deutschland, übernommen.

Sprachwoche findet 2019 zum ersten Mal in ganz Deutschland statt

Im Mai, vom 18. bis zum 26., findet die diesjährige Sprachwoche statt. Mitmachen kann jeder – und die Anmeldungen sind noch offen. Mehr als 150 Gemeinden in ganz Deutschland haben sich bis heute schon angemeldet. Ob in privaten Wohnungen, auf Marktplätzen, in Theatern oder Bibliotheken – egal wo, Hauptsache die Menschen kommen zusammen und unterhalten sich, diskutieren miteinander und kommen ins Gespräch. Das ist Erdogans Wunsch und Ziel. Am 25. Mai um 11 Uhr ist er übrigens selbst auf dem Markt an der Wutzkyallee in Neukölln, um dort über sein 2017 erschienenes Buch „Kazım, wie schaffen wir das?“ zu reden.

„Wir müssen ein Wir-Gefühl entwickeln“

„Ich behaupte, dass 90 Prozent der Probleme in unserer Welt oder in unserer Gesellschaft Ergebnisse der Kommunikations- und Sprachlosigkeit sind“, sagt Erdogan. Egal ob Männer und Frauen, Deutsche und Ausländer, Kinder und Senioren – „wir haben es nicht geschafft ein Wir-Gefühl zu entwickeln und zu stärken. Wir reden übereinander, gegeneinander, durcheinander – das regiert. Ein wahres Miteinander ist noch nicht entstanden.“

Sprache ist für Erdogan, der übrigens selbst gern türkische Lyrik liest, also nicht nur etwas Poetisches. Sondern eine Werkzeug. „Unsere Welt kann so schön sein. Und die Welt, und auch die Gesellschaft, kann noch schöner werden, wenn wir davon ausgehen, dass wir schön sind. Und diese Schönheit wollen wir den Menschen weitergeben“, erklärt Erdogan, was er mit der Sprachwoche erreichen will.

Bescheidener Träger des Bundesverdienstkreuzes

Erdogan ist übrigens Träger des Bundesverdienstkreuzes für sein Engagement in der Integrationsarbeit in Neukölln. Zum Abschluss des Gesprächs sagt er: „Würde ich nochmal als 21-Jähriger nach Deutschland kommen – ich würde alles genauso nochmal machen. Ich habe nichts zu bereuen.“ Jedem anderen würde es vermutlich schon allein wegen des Bundesverdienstkreuz leicht fallen, so etwas zu sagen. Kazim Erdogan hat diese Auszeichnung aber während des ganzen Gesprächs nicht ein Mal erwähnt.