Mitte ist ein begehrter Wohnbezirk und daher von Mietsteigerungen, Immobilienspekulation und Verdrängung alteingesessener Anwohner besonders betroffen. Die Probleme auf dem Wohnungsmarkt waren das zentrale Thema des Leserforums „Morgenpost vor Ort“ am Dienstagabend. Was könnte helfen? Die Enteignung großer Wohnungsgesellschaften, ein Mietpreisdeckel oder das Verbot des Immobilienerwerbs durch ausländische Investoren? Die Meinungen gingen auseinander. Angeregt debattiert wurde ebenso über Kriminalität, die Gestaltung und Nutzung des öffentlichen Raumes sowie den Erhalt der bunten, lebendigen Mischung im Bezirk. Das Interesse der Leser war groß, die Halle des Märkischen Museums gut gefüllt.
Über Probleme und Perspektiven des Bezirks Mitte diskutierten auf dem Podium Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel (Grüne), der stellvertretende Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, Sebastian Bartels, Katja Niggemeier vom Quartiersmanagement Brunnenstraße, der Leiter des Referats Kriminalitätsbekämpfung der Polizeidirektion 3, Kriminaldirektor Frank Millert, sowie der Mitte-Reporter der Berliner Morgenpost, Christian Latz. Hajo Schumacher, Autor und Kolumnist dieser Zeitung, moderierte den Abend. Die wichtigsten Themen im Überblick:
Wohnungsmarkt: Sebastian Bartels berichtete, dass inzwischen jede Mieterhöhung ein Problem sei, weil die Mieten ohnehin schon so hoch sind. Viele Mieter seien nervös, ließen sich auch vom Mieterverein beraten, scheuten dann aber vor einer Klage zurück, weil sie eine Kündigung wegen Eigenbedarfs befürchten. Stephan von Dassel sieht Hochhäuser nicht als Alternative, um Platz für neue Wohnungen zu schaffen. „Sie sind keine Lösung für die Stadt, weil sie zu teuer sind. Dort entstehen nicht die Wohnungen, die wir in Berlin benötigen“, sagte er. Mitte sei „im Prinzip voll“, es gebe aber einzelne Flächen, auf denen Wohnungen gebaut werden könnten.
Der Bezirksbürgermeister wies darauf hin, dass in Ortsteilen von Mitte, etwa in Wedding, das Wachstum ohne nennenswerten Neubau stattfinde – in den Wohnungen selbst. Sie würden vielfach heute von wesentlich mehr Personen bewohnt als noch vor wenigen Jahren. Katja Niggemeier sprach sich trotz des Drucks auf den Wohnungsmarkt gegen eine Zuzugssperre für Berlin aus. Wahrscheinlich müssten sich aber Menschen, die nach Berlin kommen, künftig stärker darauf einrichten, in Außenbezirke zu ziehen. Christian Latz warf ein, viele Maßnahmen gegen Mieterhöhungen und Immobilienspekulation seien nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Auch in Milieuschutzgebieten würden Mietwohnungen weiterhin in Wohneigentum umgewandelt. Das Vorkaufsrecht der Bezirke betreffe immer einzelne Häuser, davon profitierten nur wenige.
Stephan von Dassel erläuterte, wie schwierig es manchmal für den Bezirk ist, das Verbot der Zweckentfremdung von Wohnraum durchzusetzen. Bei dem Verbot von Ferienwohnungen habe der Bezirk in der ersten Instanz gewonnen, die zweite Instanz habe die Entscheidung ans Bundesverfassungsgericht gegeben. Bis zu einer Entscheidung könnten fünf Jahre vergehen. An der Habersaathstraße stünden in einem Wohnkomplex 80 von 100 Wohnungen leer. Der Investor wolle das Haus abreißen, das habe der Bezirk untersagt. Nun klage er dagegen. Bis dies juristisch entschieden sei, könne keine Wiedervermietung der Wohnungen durchgesetzt werden. Sebastian Bartels war überzeugt, der Hauseigentümer könne zumindest verpflichtet werden, Zeitmietverträge abzuschließen. Er forderte den Bezirk zudem auf, entschieden gegen „kriminelle Vermieter“ einzuschreiten, die in verwahrlosten, eigentlich leerstehenden Häusern Wohnungen und Zimmer an Sinti und Roma vermieten.
Enteignungen und Kaufverbote: Auf die Frage von Hajo Schumacher, ob er Enteignungen befürworte, sagte der Bezirksbürgermeister: „Ich bin ein Befürworter dessen, was wirkt und was gerichtlich durchsetzbar ist.“ Bei Enteignungen ist er offenbar skeptisch. Er forderte Bund und Land auf, die rechtlichen Rahmenbedingungen für den Immobilienerwerb zu ändern: „Warum kann ein luxemburgischer Immobilienfonds überhaupt ein Haus in Berlin kaufen? Warum kann man nicht sagen, das ist nicht zulässig? Warum fordert man nicht wenigstens einen deutschen Wohnsitz des Erwerbers?“ Von Dassel verwies darauf, dass es in anderen Ländern auch Restriktionen gebe, etwa beim Kauf von Ferienwohnungen durch Ausländer.
Der Vertreter des Mietervereins hielt diesen Vorschlag für rechtlich nicht durchsetzbar. „Das ist zu kiezig gedacht“, sagte Sebastian Bartels. Im übrigen seien nicht alle ausländischen Erwerber auf kurzfristige Gewinne aus.
Bartels nannte es realistischer, über Enteignungen großer Wohnungsunternehmen und einen Mietpreisdeckel zu sprechen. Die gegenwärtige Debatte um Enteignungen sei ein Zeichen dafür, „dass es brodelt“. Sie koche nicht etwa hoch, „weil die Leute wild geworden sind und den Sozialismus wollen. Es ist hanebüchen, den Mietern das zu unterstellen.“ Enteignen bedeute auch nicht, Unternehmen etwas wegzunehmen, sondern sie zu entschädigen und ihren Bestand zu kaufen. Das geschehe auch beim Vorkaufsrecht. Der Erwerb durch die öffentliche Hand sei eine wichtige Strategie der Bodenbewirtschaftung, die andere Kommunen in Deutschland seit vielen Jahren verfolgten, betonte Bartels. „Die Bundespolitik lässt uns im Stich“, kritisierte er. „Die Mietpreisbremse läuft Ende 2020 aus, und es ist offen, ob sie verlängert wird. Die Modernisierungsumlage ist von elf auf acht Prozent gesenkt worden, das ist ein Witz“, sagte der stellvertretende Geschäftsführer des Berliner Mietervereins. Er plädierte dafür, die Umlage auf vier Prozent zu senken und forderte eine „drastische Entrümpelung der Modernisierungsvorschriften“.
Kriminalität: Frank Millert bezeichnete den Alexanderplatz als Kernproblem der Polizeiarbeit in Mitte. „Man muss damit leben, dass am Alexanderplatz Kriminalität stattfindet“, sagte er. Es sei der Ort im Bezirk, an dem die meisten Straftaten stattfinden, in den vergangenen drei, vier Jahren sei eine massive Steigerung zu verzeichnen gewesen. „Die haben wir relativ gut zurückfahren können, aber wir sind noch nicht da, wo wir hinwollen“, sagte der Kriminaldirektor. Auch die Alltags- und Straßenkriminalität wie Einbrüche, Raubtaten und Körperverletzungen in anderen Ortsteilen beschäftige die Beamten sehr. „Aber da sind wir vorangekommen“, sagte Millert.
Bezirksbürgermeister von Dassel äußerte sich besorgt über den massiven Anstieg des Drogenhandels und -konsums. „Den haben Sie nicht mehr nur an einzelnen Punkten, sondern an jedem U-Bahnhof der U9 von Zoo bis Osloer Straße, auch tagsüber.“ Das sei ein großes Drama. Christian Latz bestätigte den Eindruck, dass der Drogenhandel zugenommen habe, auch in Moabit und an den Bahnhöfen der U8. „Es scheint sich von alten Hotspots ausgeweitet zu haben, sagte Latz.
Kriminaldirektor Millert erklärte, der Handel werde durch Kontrollen der Polizei verdrängt, dann entstünden neue Hotspots. „Wir können dem nur hinterherrennen.“ Das Grundproblem liege woanders, die Nachfrage nach Drogen sei in der Gesellschaft vorhanden, daran könne die Polizei nichts ändern. Nach Einsätzen der Polizei weise die Kriminalitätsstatistik steigende Deliktzahlen auf – obwohl sich durch die Einsätze die Lage an jenem Ort verbessert habe. Die Drogenkriminalität sei in der Breite angesichts begrenzter Ressourcen mit polizeilichen Mitteln nicht zu lösen, warf Millert ein. „Wir können nur dorthin gehen, wo es besonders schlimm ist.“ Katja Niggemeier beobachtet im Brunnenviertel ebenfalls eine Zunahme der Besorgnis. Eltern klagten, dass Drogenhandel vermehrt in unmittelbarer Nähe von Spielplätzen und Grundschulen stattfinde. Einige hätten schon angekündigt, wegzuziehen. Die Brunnenstraße sei aber kein Hotspot der Kriminalität.
Soziale Probleme: Hajo Schumacher warf die Frage auf, wie der Teufelskreis sozialer Probleme durchbrochen werden könne. Der soziale Status sei in Gesundbrunnen in vielen Familien „dramatisch“, sagte Niggemeier. 60 Prozent der Kinder lebten in Hartz-IV-Haushalten. „Wir müssen in Bildungseinrichtungen investieren, vor allem in Schulen. Das passiert auch, aber langsamer als es wünschenswert wäre“, so die Quartiersmanagerin. Von Dassel sagte, der Senat investiere jetzt in eine Schulbauoffensive, das sei auch wichtig. Dabei rücke aber die Frage, wie verhindert werden kann, dass teilweise 25 Prozent der Schüler die Schule ohne Abschluss verlassen, „zu weit nach hinten“. Die notwendigen Maßnahmen gegen den sozialen Teufelskreis seien lange bekannt. Notwendig sei doppelt so viel pädagogisches Personal in Schulen und Kitas. „Da muss investiert werden“, sagte der Grünen-Politiker. Als Beispiel, was Personal bewirken kann, nannte er die Willy-Brandt-Schule, an der ein hoher Prozentsatz von Schülern die Schule bisher ohne Abschluss verließ. Dort gebe es eine neue Schulleitung, einen neuen Hausmeister und eine neue Sekretärin. Diese Neubesetzungen in Schlüsselpositionen hätten der Schule „einen ganz anderen Spirit“ gegeben.
F ußgängerzonen und Feste Stephan von Dassel sprach sich für einen Paradigmenwechsel in der historischen Mitte aus. Er empfahl, den privaten Autoverkehr stark zurückzudrängen. „Da müssen wir viel radikaler werden“, sagte er. „Früher haben sich die Menschen ihre beste Kleidung angezogen, wenn sie Unter den Linden promenieren wollten. Heute haben sie dort Angst, überfahren zu werden.“ Die City müsse vom Durchfahrtsort zum Aufenthaltsort werden, forderte der Bezirksbürgermeister. Als die Friedrichstraße kürzlich für einen Nachmittag zur Fußgängerzone umfunktioniert wurde, hätten viele die Stadt ganz anders erlebt. Er sprach sich indes dagegen aus, die historische Mitte „mit rummeligen Veranstaltungen totzuspielen“. Der auf Landesebene beschlossene Rechtsrahmen sorge leider dafür, dass der Bezirk die meisten Veranstaltungen genehmigen müsse. Von Dassel forderte eine Änderung.
Vielfalt erhalten „Ist die Gentrifizierung von Stadtvierteln in Metropolen ein Naturgesetz?“, fragte Hajo Schumacher und bat die Podiumsteilnehmer um eine Einschätzung, wie die Vielfalt von Mitte erhalten werden könne. „Ich habe keine Sorge, dass die Vielfalt verschwindet“, sagte Frank Millert optimistisch. Menschen, die nach Berlin ziehen, bereicherten die Stadt und machten sie vielfältig, sagte Katja Niggemeier. „Wichtig ist aber, die sozioökonomische Vielfalt zu bewahren. Dafür braucht es bezahlbaren Wohnraum und eine funktionierende soziale Infrastruktur, zum Beispiel integrierte Familien- und Nachbarschaftszentren.“ Der Bezirksbürgermeister erklärte, nur gut ausgebildete Menschen hätten eine Zukunft in Mitte. Daher sei es wichtig, die Startchancen derer zu erhöhen, die aus eher bildungsfernen Familien kämen und ihnen zum Beispiel Jobs in der Verwaltung anzubieten.
Eine Leserin aus Alt-Mitte bekannte, sie fühle sich mittlerweile als Statistin in ihrer eigenen Stadt. Für Anwohner werde kaum noch gewerbliche Infrastruktur angeboten, alles ziele auf Touristen ab. Auf dem Podium herrschte Einigkeit, dass die Entwicklung Berlins zum Touristenmagneten wohl nicht mehr zurückzudrängen ist. „Aber man kann die Frage aufwerfen, in welcher Stadt wir leben wollen. Bei Abwägungen sollte man vielleicht auch mal zugunsten der Anwohner entscheiden“, warf Katja Niggemeier ein.
Der Moderator stellte die Frage, ob die Gentrifizierung sich nicht auch immer in Zyklen vollziehe. Mal sei ein Stadtviertel angesagt und oben, ein paar Jahre später wieder nicht. Christian Latz widersprach dem Gedanken des Naturgesetzes. Es gebe rechtliche Möglichkeiten, bei negativen Entwicklungen einzugreifen, etwa bei der Mietenentwicklung. Das müsse man betonen, um sich nicht in dem Gedanken eines vermeintlichen Naturgesetzes zu verfangen. Für diesen Einwurf erhielt er den stärksten Applaus des Abends.
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