Am Hauptbahnhof entsteht auf einer Fläche von rund 90 Fußballfeldern ein neuer Stadtteil mit 4300 Wohnungen für rund 8600 Menschen.
Wer hier wohnen will, braucht vor allem zwei Dinge: Pioniergeist – und ganz viel Geduld. Denn die Europacity, die derzeit auf einer Fläche so groß wie 90 Fußballfelder gleich hinter dem Hauptbahnhof hochgezogen wird, ist noch eine riesige Baustelle.
Zwar erheben sich bereits unübersehbar erste Gebäude aus der Sandwüste, die sich vom Hauptbahnhof im Süden entlang der Heidestraße bis zur Perleberger Brücke im Norden erstreckt. Doch diese konzentrieren sich bislang unmittelbar um die Invalidenstraße, den Kunstcampus am alten Hamburger Bahnhof und am Hauptbahnhof. Je nördlicher die wenigen Passanten kommen, desto unwirtlicher wird es. Hinter Bau- und Maschendrahtzäunen erstrecken sich weite Sand- und Brachflächen, auf denen Baufahrzeuge emsig hin und her fahren. Denn fertig ist hier bislang nur eins: die bestens ausgebaute Heidestraße. Sogar die Straßenbäume stehen seit knapp einem Jahr schon: Insgesamt wurden 137 Ulmen und Hainbuchen gepflanzt.
„Was hier noch fehlt? Praktisch alles“, sagt Eike Becker. Der Architekt arbeitet seit zwei Jahren im Tour Total, dem ersten Büroturm in der Europacity, der im Oktober 2012 an der Jean-Monnet-Straße nördlich des Hauptbahnhofs fertiggestellt wurde. Hauptmieter des 69 Meter hohen Turms mit seinen 16 Bürogeschossen ist der französische Mineralölkonzern Total. Doch einige Etagen sind auch an andere Mieter vergeben. Darunter das Büro von Becker. Die 15. Etage teilt er sich mit einer Anwaltskanzlei. Insgesamt 500 Menschen arbeiten in dem Haus. Inzwischen ist das Bürogebäude nicht mehr allein auf der einstigen Bahnbrache nördlich des Hauptbahnhofs. Im Herbst vergangenen Jahres wurde gleich nebenan die Konzernzentrale des Unternehmens 50Hertz bezogen. 650 Beschäftigte arbeiten hier.

Legende: Gelb - Quartier Heidestraße, Pink: Östliche Europacity, Grün: Lehrter Stadtquartier, Blau: Mittenmang; Grafik vergrößern
So langsam füllt sich die Europacity, zumindest im Bereich direkt um den Hauptbahnhof, mit Leben. „Mir gefällt es, Pionier zu sein“, sagt Becker. Für ihn als Architekten sei es eine einmalige Chance, tagtäglich beobachten zu können, wie zu seinen Füßen ein neues Stadtviertel wachse. „Und das nicht auf der grünen Wiese, sondern mitten in Berlin“, betont er. Inzwischen hätten er und auch seine Mitarbeiter den Umzug aus dem quirligen Kreuzberg verwunden. Ganz freiwillig war das Architekturbüro nämlich nicht in die Europacity gezogen: Weil der Internetkonzern Rocket Internet in den einstigen GSW-Tower an der Rudi-Dutschke-Straße zog, mussten alle Mieter dort ausziehen – darunter auch das Architekturbüro Eike Becker.

Bis wirklich urbanes Leben in der Europacity entsteht, wird es wohl noch ein paar Jahre dauern. Denn die Dimensionen des Entwicklungsgebietes, das auf Grundlage eines Masterplans entsteht, den der Berliner Senat bereits vor acht Jahren beschlossen hat, sind enorm. Knapp 64 Hektar groß ist das Areal, das sich zwischen der Spree und dem Humboldthafen im Süden, der Perleberger Straße im Norden, dem Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal im Osten und der Lehrter Straße im Westen erstreckt. Das Bauvorhaben „Mittenmang“ westlich der Bahngleise gehört streng genommen nicht dazu und auch das „Lehrter Stadtquartier“ südlich des Hauptbahnhofs ist planerisch ein eigenständiger Teilbereich. Die gemeinsame Betrachtung macht jedoch Sinn: Nicht nur sind die einzelnen Projektgebiete unmittelbar benachbart, sie werden auch nahezu zeitgleich entwickelt und prägen so den gesamten Moabiter Osten neu. Insgesamt werden in den einzelnen Quartieren rund 4300 Wohnungen gebaut, in die etwa 8600 Menschen einziehen werden. In den Bürogebäuden entstehen ferner mehr als 10.000 Arbeitsplätze.
Immerhin: Die ersten Wohnungen sind bereits fertiggestellt in dem einstigen Niemandsland zwischen Ost und West. Ein Haus mit 120 Eigentumswohnungen im „KunstCampus“ hinter dem Hamburger Bahnhof und unmittelbar am Berlin-Spandauer-Schifffahrtskanal hat die Groth Gruppe errichtet. In wenigen Monaten werden auch die ersten 204 Mietwohnungen fertig sein. Sie entstehen ungefähr auf halber Höhe der Heidestraße und sind bereits im Rohbau fertig.
Dass so viel Neubautätigkeit in der angestammten Nachbarschaft mit einiger Sorge gesehen wird, verwundert da nicht. Was die Menschen im Moabiter Osten bewegt, zeigt etwa der Blick auf die ausgelegten Flyer im B-Laden an der Lehrter Straße 27. Hier hat der Betroffenenrat Lehrter Straße sein Büro. „Mietenstopp in Moabit“, „Mietenalarm in Moabit“ liegen auf einem Tischchen griffbereit parat. Daneben wird auf das „Telefon gegen Zwangsräumung“ oder die Initiative „Gemeinsam gegen Ferienwohnungen“ hingewiesen.
„Die Themen von damals beschäftigen uns auch heute“, sagt Susanne Torka. Seit mehr als drei Jahrzehnten wohnt die 64-Jährige in der Lehrter Straße – und fast ebenso so lange ist sie im Betroffenenrat Lehrter Straße aktiv.

„In den 80er-Jahren war das hier ein schon lange vernachlässigtes Gebiet im Schatten der Mauer“, sagt Torka. Viel hat sich seit dem Mauerfall in der Lehrter Straße geändert – besonders dynamisch, seit 2006 der Hauptbahnhof eröffnete. „Aber noch immer beschäftigen uns die Dauerthemen Verkehr, Häusersanierung, Mietenentwicklung sowie die Grünflächen- und Spielplatzgestaltung“, so die studierte Landschaftsplanerin, die dem Kiez schon so lange die Treue hält. Bisher gibt es lediglich knapp über 1000 Wohnungen an der Lehrter Straße, darunter prächtige Gründerzeithäuser genauso wie schlichte Sozialbaukästen aus den 60er- und 70er-Jahren.
Mit dem Bauvorhaben „Mittenmang“ auf dem 3,7 Hektar großen Gelände des früheren Bahnbetriebswerks wird sich die Zahl der Wohnungen und damit auch der Anwohner an der Straße in Kürze verdoppeln. Und angesichts der geplanten Neubauwohnungen wohl auch die Zusammensetzung der Einwohnerschaft.
Im Heidestraßenkiez, zu dem auch die Lehrter Straße zählt, sind 37 Prozent der Bewohner auf staatliche Transferleistungen angewiesen, der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund liegt bei 64 Prozent. „Dass sich was ändert, ist also klar“, sagt Susanne Torka. Grundsätzlich, betont die Anwohnerin, sei sie auch nicht gegen das Bauvorhaben in ihrem Viertel. Doch sie befürchte, dass hier der „übliche Mist entsteht und nicht die Wohnungen, die gebraucht werden“. Immerhin entstehen im „Mittenmang“ auch 158 geförderte Mietwohnungen, die die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Degewo übernimmt.
Doch neben den Degewo-Wohnungen sind vor allem Eigentumswohnungen, frei finanzierte Mietwohnungen sowie teure 300 Mikroappartements zur kurzfristigen Vermietung geplant. Der soziale Wandel werde sich also kaum aufhalten lassen, wenn deutlich Wohlhabendere zuziehen. Jetzt gehe es darum, zu verhindern, dass die angestammten Bewohner im Zuge der Aufwertung verdrängt würden. Die Aufgaben für den Betroffenenrat Lehrter Straße sind in den vergangenen Jahren nicht weniger geworden.
Östliche Europacity

Das Teilgebiet östlich der Heidestraße wird begrenzt von der Invalidenstraße im Süden, dem Berlin-Spandauer-Schifffahrtskanal im Osten, der Perleberger Straße im Norden und der Heidestraße im Westen. Entlang der Heidestraße und am Europaplatz sind bereits einige große Bürogebäude fertiggestellt, darunter der Tour Total, ein 69 Meter hoher Turm an der Jean-Monnet-Straße. Direkt am Schifffahrtskanal steht auch das bislang einzige fertiggestellte Wohnhaus in der gesamten Europacity. Die 120 Eigentumswohnungen und die Tiefgarage mit 81 Plätzen wurden von der Groth Gruppe errichtet. Die ersten 204 Mietwohnungen entstehen aktuell in vier Gebäuden etwa auf halber Höhe der Heidestraße und sind bereits im Rohbau fertig. 42 der Wohnungen im sogenannten Stadthafenquartier werden Sozialwohnungen sein. 65 Millionen Euro investiere sein Unternehmen in die 204 Wohnungen, die im Sommer 2018 komplett fertig sein sollen, sagte Geschäftsführer Nikolaus Ditting der Berliner Morgenpost. Im Erdgeschoss sind Cafés, Lokale, Einzelhandel und eine Kita vorgesehen. Gleich neben den im Rohbau fertigen Gebäuden sind bereits die Baugruben für weitere 300 Wohnungen ausgehoben. Auch dort baut das Hamburger Unternehmen Ditting. Bis Anfang 2019 sollen auch diese bezugsfertig sein. Insgesamt sind im Teilbereich 1700 Wohnungen für 3400 Bewohner geplant, für die zwei Kitas (65 und 45 Plätze) gebaut werden. In den Bürogebäuden entstehen 3500 Arbeitsplätze.
Quartier Heidestraße

Auf der Brache westlich der Heidestraße, auf der in den vergangenen Jahren noch das Deutsch-Amerikanische Volksfest stattfand, sind die Bauarbeiten im vollen Gange. Der erste Bauabschnitt mit 170 Wohnungen soll Ende 2019 fertig sein, sagte Thomas Bergander, Geschäftsführer der Quartier Heidestraße GmbH, die auf einem 8,5 Hektar großen Baugrundstück den Großteil des Areals entwickelt. Das zentrale Gebäudeensemble soll der Auftakt für eine ganze Reihe weiterer Bauvorhaben werden. So entsteht entlang der Bahngleise ein 550 Meter langer Gewerberiegel, der die vier geplanten Wohnblöcke vom Bahnlärm abschirmt. Insgesamt entstehen im Quartier Heidestraße 860 Wohnungen, von denen ein Viertel als Sozialwohnungen mit Mieten zwischen 6,50 und acht Euro errichtet werden. Ferner sind ein Hotel sowie zwei Kitas (45 und 70 Plätze), ein 2500 Quadratmeter großer Supermarkt und 7000 Arbeitsplätze in den neuen Bürogebäuden vorgesehen. Westlich der Heidestraße gibt es noch Flächen, die nicht dem Unternehmen gehören. 440 weitere Wohnungen sind um die wenigen Bestandsgebäude an der Heidestraße herum geplant. Insgesamt entstehen westlich der Heidestraße also 1300 Wohnungen.
Lehrter Stadtquartier

Südlich der Invalidenstraße, begrenzt vom Humboldthafen, der Spree, dem Hauptbahnhof und der Straße Alt-Moabit erstreckt sich das Lehrter Stadtquartier, ein Teilgebiet der Europacity, das schon in weiten Teilen bebaut ist. Den Anfang machte 2009 das Meininger Hotel. Der schlichte, grau verputzte „Low-Budget“-Kasten brachte nicht nur Meinhard von Gerkan, den Schöpfer des 2006 eröffneten Hauptbahnhofs in Rage, sondern führte auch dazu, dass die Berliner Senatsbaudirektorin Regula Lüscher ein „Baukollegium“ einsetzte, damit solch dürftige Architektur wenigstens an städtebaulich herausgehobenen Plätzen nicht mehr möglich ist. Von den neun Bürogebäuden, die im Planungsbereich vorgesehen sind, sind drei bereits bezogen. Zudem sind drei Hotels (InterCity, Steigenberger, Meininger) schon in Betrieb, ein weiteres ist geplant. Direkt am Humboldthafen entstehen ferner zwei Wohnhäuser mit insgesamt 250 Wohnungen und ein Gebäude mit kultureller Nutzung ist dort ebenfalls vorgesehen. „The Cube“, das spektakuläre, gläserne Premium-Bürohaus auf dem Washingtonplatz, zwischen Hauptbahnhof und Bundeskanzleramt ist im Bau. 2019 soll es bezugsfertig sein.
Mittenmang

„Mittenmang“ nennt sich das kleinste der vier Planungsgebiete. Es liegt zwischen den Bahngleisen und der Lehrter Straße und wird von der Berliner Groth Gruppe entwickelt. Genau genommen gehört es gar nicht zum Entwicklungsgebiet Europacity. Da die beiden Quartiere jedoch in unmittelbarer Nachbarschaft liegen und die trennenden Gleise später durch eine kombinierte Rad- und Fußgängerbrücke verbunden werden sollen, macht die gemeinsame Betrachtung durchaus Sinn. Die Baufläche an der Lehrter Straße ist 3,7 Hektar groß. Der Baustart für die insgesamt rund 1000 Wohnungen ist bereits erfolgt. Nach Auskunft der Groth Gruppe werden 255 Eigentumswohnungen und 344 frei finanzierte Mietwohnungen sowie für das landeseigene Wohnungsunternehmen Degewo 158 Sozialwohnungen errichtet, in denen die Miete zwischen sechs und 7,50 Euro je Quadratmeter liegen wird. In dieser Woche wurde Richtfest für die Sozialwohnungen gefeiert. Ferner entstehen 266 Mikroapartments für Berufspendler sowie eine Kita mit 80 Plätzen. Das Investitionsvolumen beträgt laut Groth Gruppe rund 250 Millionen Euro. Bis Mitte 2019 soll das gesamte Bauvorhaben abgeschlossen sein.