Die Gedenkveranstaltung „Denk mal am Ort“ erinnert auch dieses Jahr wieder an Menschen, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurden.

Der Tag, an dem die Gestapo damals vor seiner Tür in einem Berliner Versteck stand und ihn gemeinsam mit der Mutter und dem kleinem Bruder deportieren wollte, war der 17. Oktober 1944. Franz Michalski weiß es auch deshalb noch so genau, weil es sein zehnter Geburtstag war. Der Kuchen stand schon auf dem Tisch. Als die Gestapo klopfte, floh seine Mutter Lily Michalski mit ihren beiden Kindern durch den Hinterhof. Eine Kollegin des Vaters erwartete die Familie am Bahnhof, um ihnen bei der Flucht in die Steiermark zu verhelfen.

Erzählen die Geschichte der Verfolgung ihrer Familie so oft es geht: Petra und Franz Michalski
Erzählen die Geschichte der Verfolgung ihrer Familie so oft es geht: Petra und Franz Michalski © Anja Meyer | Anja Meyer

Vier Wochen später brachten Mutter Lily und Vater Herbert Michalski die beiden Jungen Franz und Peter zu ihrem ehemaligen Kindermädchen in der Nähe von Görlitz. Von dort aus ging es weiter ins heutige Tschechien, wo die Familie bis Kriegsende gemeinsam mit drei anderen Verfolgten vor der Öffentlichkeit versteckt ein Hotelzimmer bewohnte – und so überlebte. Die Flucht-Geschichte von Franz Michalski ist die Geschichte einer verfolgten, jüdischen Familie zur NS-Zeit. Um sie nicht zu vergessen, erzählen Franz und seine Frau Petra Michalski sie so oft es geht. Vor Erwachsenen, Studenten und vor Schülern berichten sie, wie der Jude Franz Michalski als Kind misshandelt und verfolgt wurde. Und wie er auch später immer wieder antisemitische Kommentare zu hören bekam.

Zeitzeugen berichten an verschiedenen Orten

An diesem Sonntag wird das Ehepaar die Geschichte abermals erzählen – im Rahmen der Gedenkveranstaltung „Denk mal am Ort“, die seit 2016 an einem Wochenende rund um den Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1945 in Berlin veranstaltet wird. Genauso wie das Ehepaar werden an diesem Wochenende weitere Zeitzeugen an verschiedenen Orten in der Stadt über ihre Erlebnisse berichten. Und heutige Bewohner von Wohnungen, in denen einst Verfolgte lebten, werden ihre Türen öffnen: Um an authentischen Orten an die Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern. Im Wohnzimmer, Treppenhaus, Innenhof oder auch in Kirchen, Kellern oder an öffentlichen Plätzen werden dazu Papierschnipsel von Briefwechseln oder Fotos ausgestellt, Geschichten erzählt oder Lieder gesungen. Das ist das Konzept des Gedenkprojektes „Denk mal am Ort“. Die 28 Programmpunkte sind über die gesamte Stadt verteilt, ein Großteil findet in der City West statt.

Akribisch: Marie Rolshoven und Jani Pietsch bei der Vorbereitung der Aktion
Akribisch: Marie Rolshoven und Jani Pietsch bei der Vorbereitung der Aktion © Anja Meyer | Anja Meyer

Die Initiatorinnen von „Denk mal am Ort“ sind Marie Rolshoven und ihre Mutter, die Historikerin und Künstlerin Jani Pietsch. Marie Rolshoven lebt selbst in einer Wohnung an der Rosenheimer Straße in Schöneberg, aus der neun Menschen verfolgt, enteignet und deportiert wurden. Als Bildungsreferentin der Schöneberger Dauerausstellung „Wir waren Nachbarn“ hatte sie viel über Verfolgte aus anderen Wohnungen erfahren, zu deren heutigen Bewohner sie auch über die Ausstellung Kontakt hielt. So entstand die Idee für das Projekt. Es geht auf die Aktion „Open Jewish Homes“ zurück, die seit 2012 in Amsterdam läuft. Jährlich öffnen dort Anwohner ihre privaten Türen und erinnern am die früheren Bewohner. „Das Gedenken am authentischen Ort macht die Geschichte noch berührender“, sagt Marie Rolshoven. „Denn wir leben in Wohnungen mit Vergangenheit.“

Senatskulturverwaltung fördert das Projekt

Die Senatsverwaltung für Kultur und Europa fördert das Projekt in diesem Jahr mit 16.000 Euro. Davon haben die Organisatorinnen unter anderem das Programm auf Deutsch und Englisch drucken lassen und zwölf Zeitzeugen aus dem In- und Ausland nach Berlin eingeladen. Ganz besonders freut sich Marie Rolshoven auf den Besuch des 91 Jahre alten Joel Ludwig Katzenellenbogen, der im zweiten Stock ihres Hauses lebte und mit seiner Familie aus Israel anreist. „Die Familie hatte vorher Fotos geschickt, auf denen er mit seiner Schultüte vor unserer Haustür steht“, erzählt sie. Sie sei gespannt, seine Geschichte nun von ihm persönlich zu hören. „Mir war es besonders wichtig, dass die Förderung vom Senat kommt“, sagt Marie Rolshoven. „So ist es die Stadt Berlin, die die Zeitzeugen zurück an ihren Heimatort einlädt.“

Michalskis Enkel wurde an Friedenauer Schule gemobbt

Mit Blick auf die Häufung antisemitischer Übergriffe in den vergangenen Monaten, erscheinen Gedenkveranstaltungen mit Zeitzeugen noch wichtiger als ohnehin schon. Davon können auch Petra und Franz Michalski berichten: Ihr eigener Enkelsohn ist im vergangenen Sommer wegen seiner jüdischen Herkunft an einer Friedenauer Gemeinschaftsschule gemobbt und gewürgt worden. Der Fall ging durch die Medien. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Kinder und Jugendliche ihren Antisemitismus häufig aus dem Elternhaus übernehmen und gerade dann überdenken, wenn sie eine persönliche Geschichte von Verfolgten hören“, sagt Petra Michalski. „Deshalb wollen wir weiter erzählen und immer wieder erinnern.“

So geht es auch Rahel Mann, die als siebenjähriges Mädchen fünf Monate lang vor den Nazis in einem Keller in der Starnberger Straße 2 in Schöneberg versteckt wurde. Sie ist eine der aktivsten Zeitzeugen der Stadt, hält immer wieder Vorträge, diskutiert und liest einmal im Monat im Rathaus Schöneberg Geschichten aus dem Buch „Uns kriegt ihr nicht: Als Kinder versteckt – jüdische Überlebende erzählen.“ Am Sonnabend wird sie darüber vor der Starnberger Straße 2 berichten. Dass in jüngster Zeit vermehrt über antisemitische Vorfälle berichtet wird, wundert Rahel Mann nicht. „Ich nehme den Antijudaismus im Alltag sogar noch als viel schlimmer wahr, als er in den Medien dargestellt wird“, sagt sie. Dieser Antijudaismus ist ihrer Meinung nach in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten konstant da gewesen und werde aktuell nur stärker nach außen getragen. Deshalb hört sie nicht auf, ihre Geschichten zu erzählen. „Ich will damit gegen den Hass angehen“, sagt sie. „Nicht nur gegen den Hass auf Juden, sondern auch auf andere Menschen.“

Information

Das komplette Programm von „Denk mal am Ort“ ist im Internet abrufbar. Ein Auszug aus dem Programm in der City West:

- TU Berlin, Hauptgebäude im Lichthof im 2. OG, Straße des 17. Juni 135, Charlottenburg. Ausstellung und Video über Dr. Dimitri R. Stein, dem die TH Berlin wegen seiner jüdischen Wurzeln die Promotion verweigerte. 5. Und 6. Mai, 11 bis 13 Uhr.

- Albert Einstein Gedenkstele, Haberlandstraße 8, Schöneberg. Petra Michalski spricht über Albert Einstein, der eng mit ihrem Onkel János Plesch befreundet war. 5. Mai, 12 Uhr.

- Komödie am Kurfürstendamm, Kudamm 206/209, Charlottenburg. Lesung und Gespräch zur Erinnerung an den Theatermacher Max Reinhardt, und den Architekten Oskar Kaufmann, der die Komödie am Kudamm 1922-24 errichtete. 5. Mai, 12 bis 14 Uhr.

- Gervinusstraße 20a, Charlottenburg. Die Hausgemeinschaft erinnert an die Familien Jacoby, Messerschmidt und Reich. Mit Familienangehörigen aus London, Berlin und Amsterdam. 5. Mai, 14 bis 16 Uhr; 6. Mai, 11 bis 13 Uhr.

- Nollendorfplatz, Eingang zum Goya, Schöneberg. Stadtspaziergang mit Doris Hinzen-Röhrig zur Erinnerung an 24 Bewohner aus dem Kiez. 5. Mai, 15 bis 16 Uhr.

- Starnberger Straße 2, Schöneberg. Zeitzeugengespräch mit Rahel Mann. 5. Mai 15 bis 18 Uhr.

- Rosenheimer Straße 40, II. Stock, Schöneberg. Anke Hassel und Hugh Williamson erinnern an die Familie Katzenellenbogen, die bis 1939 in der Wohnung lebte und einen Haushaltswarenladen in der Goltzstraße betrieb. Ausstellung am 6. Mai, 12 bis 14 Uhr. Zeitzeugengespräch mit Joel Ludwig Katzenellenbogen um 13 Uhr.

- Rosenheimer Straße 40, IV. Stock, Schöneberg. Marie Rolshoven erinnert an neun frühere, verfolgte Mieter aus der Wohnung. 6. Mai, 12 bis 14 Uhr.

- Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt, Rosenthaler Str. 39, Mitte. Franz und Petra Michalski erzählen die Fluchtgeschichte von Franz’ Michalskis Familie. 6. Mai, 14 Uhr.

- Wilmersdorfer Moschee, Brienner Str. 7/8, Wilmersdorf. Ronen Steinke liest aus seinem Buch „Der Muslim und die Jüdin“. Imam Amir Aziz gibt eine Einführung. 6. Mai, 14 Uhr.

- Rathaus Schöneberg, John-F.-Kennedy-Platz 1, Schöneberg. Impulsvortrag über Cora Berliner und Adolf Schiller, die im Rathaus arbeiteten. 6. Mai, Impulsvortrag und Werkstattgespräch zu jeder vollen Stunde von 14 bis 17 Uhr.

- Buchladen Bayerischer Platz, Grunewaldstr. 59, Schöneberg. Buchhändlerin Christiane Fritsch-Weith spricht und liest über Benedict Lachmann, der 1919 an dieser Stelle einen Buchladen eröffnete. 6. Mai, 15 Uhr.

- St. Matthias-Kirche auf dem Winterfeldplatz. Pfarrer Josef Wieneke spricht über die Verfolgung seiner Vorgänger Clemens August Kardinal von Galen und Albert Coppenrath und die Ermordung des Gemeindemitglieds Erich Klausener 1934. Mezzosopranistin Kim Seligsohn singt dazu die Hymne an die Namen. 6. Mai, 17:30 Uhr.