Wie die Mutter eines Opfers vom Breitscheidplatz mit ihrer Trauer umgeht und wie die Behörden versuchen aus den Fehlern im Umgang mit dem Geschehen zu lernen. Von Michael Mielke Sie saß in der Gedächtniskirche abseits auf einer Bank. Bewusst allein mit sich und ihren Gedanken. Aber sie war dann auch froh, als ihr auf die Schulter geklopft wurde und vier junge Leute sie begrüßten und umarmten. Gute Freunde ihres Sohnes, der am 19. Dezember vergangenen Jahres bei der Amokfahrt auf dem Breitscheidplatz ermordet wurde. Er war 40 Jahre alt, Jurist, erfolgreich im Beruf. Am 19. Dezember traf er sich mit einer Kollegin auf dem Weihnachtsmarkt. Sie tranken Glühwein. Er hatte die junge Frau noch hastig wegschieben und ihr so das Leben retten können, als der Lkw herandonnerte. Für ihn selbst blieb keine Zeit mehr.
Nicht jeden Tag reicht die Kraft
Ulrike S. – wir haben ihren Namen und die ihrer Söhne auf ihren Wunsch hin verändert – hatte nicht sofort zugesagt, als sie vom Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) die Einladung für diese Veranstaltung am 13. Mai bekam. Nicht jeden Tag ist die Stimmung gleich, nicht jeden Tag reicht die Kraft. Aber sie ging am vergangenen Sonnabend dann doch zum Gedenkgottesdienst in der Gedächtniskirche, der um 14 Uhr begann, und zur anschließenden Gesprächsrunde im Roten Rathaus, bei der neben Michael Müller auch Kurt Beck anwesend war. Der Ex-SPD-Chef wurde Anfang März von der Bundesregierung zum Beauftragten für die Opfer und Angehörigen des Anschlages auf dem Breitscheidplatz ernannt. Mehr als 120 Gäste waren anwesend: Opfer, Hinterbliebene, enge Freunde, die – wie bei Ulrike S. – den traumatisierten Angehörigen in Zeiten der größten Not geholfen haben. Es war kein Geheimtreffen. Aber es sollte ohne Öffentlichkeit stattfinden. Und so geschah es dann auch.
Bisher Kontakt mit Medien gemieden
Ulrike S. hat es nicht bereut, gekommen zu sein. Die 67-Jährige wirkt sehr gefasst beim Gespräch mit der Berliner Morgenpost. Manchmal, wenn es direkt um ihren toten Sohn geht, kommt sie in Stocken, schweigt ein paar Sekunden, holt tief Luft. Es ist ihr erster Kontakt mit der Presse, die sie bislang, wie auch andere Angehörige von Opfern, gemieden hat. „Jeder verarbeitet es anders“, sagt sie. „Ich merke, wie unterschiedlich Dinge empfunden werden und Betroffene auch darüber berichten.“ Die Vorstellungen seien sehr unterschiedlich. „Einige hätten gern noch mehr Gespräche und Aufmerksamkeit gehabt.“ Sie selbst könne und wolle nicht in der Öffentlichkeit trauern. Andererseits habe sie sich „auch nicht verkriechen wollen“. „Wenn ich was tue, dann geht es mir besser.“
Ulrike S. fühlte sich gut betreut
Ulrike S. kommt aus Solingen, lebt aber schon seit einiger Zeit in Ückeritz auf der Insel Usedom. Hier bekam sie am 20. Dezember den Anruf ihres Sohnes Martin aus New York. Er habe keine gute Nachrichten, sagte er. Sein Bruder Stefan habe sich zum Zeitpunkt des Terroranschlages definitiv auf dem Breitscheidplatz aufgehalten und gelte als vermisst. „Ich hatte sofort so ein merkwürdiges Gefühl“, sagt Ulrike S. „Ich bin sofort mit dem Zug nach Berlin gefahren.“ Sie fuhr in Stefans Wohnung, in der Hoffnung, dass er sich dorthin, erschüttert von den Erlebnissen auf dem Breitscheidplatz, zurückgezogen habe. „Es hat dann noch bis Donnerstag gedauert, bis wir wussten, dass er nicht überlebte“, sagt Ulrike S. leise. Sie blieb zunächst in Berlin, fühlte sich gut betreut. Eine Polizeikommissarin war für sie und ihre Familie zuständig. Die Beamtin war es dann auch, die Ulrike S. und andere Angehörige von Todesopfern am 24. Dezember mit in die Gedächtniskirche zu einem Gottesdienst für Angehörige der Polizei nahm. Sie brachten Kerzen mit und weiße Lilien. Anschließend, so Ulrike S., hätten sie noch miteinander gesprochen und Telefonnummern und Adressen ausgetauscht. In Ückeritz wird Ulrike S. von der Opferschutzorganisation „Weißer Ring“ betreut. „Ein sehr engagiertes Polizistenpaar kümmert sich um mich. Ich kann da wirklich nur das Beste sagen.“
Chance, Probleme anzusprechen
Die nächste große Zusammenkunft gab es dann im Februar beim Bundespräsidenten Joachim Gauck, der rund 50 Angehörige der Todesopfer empfing. Ulrike S. saß zufällig neben ihm am Tisch. Sie bedankte sich für die Einladung und sagte ihm auch, dass sie es genauso wichtig finde, sich um die Verletzten und deren Angehörige zu kümmern. Beim Treffen am Sonnabend im Roten Rathaus waren dann alle dabei. Und für alle war es die Chance, ihre Probleme anzusprechen. Michael Müller und Berlins Opferbeauftragter Roland Weber gingen von Tisch zu Tisch und sprachen mit jedem, notierten Wünsche, Fragen, Kritik, versprachen, dass es eine zügige Reaktion geben werde. Ganz oben auf der Dringlichkeitsliste steht die Einrichtung einer zentralen Anlaufstelle. Bei ihr sollen im Notfall Informationen der Feuerwehr, der Polizei, der Krankenhäuser und der Gerichtsmedizin gebündelt werden. Es soll nicht wieder Informationsdefizite wie nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz geben, als Angehörige in einzelnen Fällen tagelang vergeblich herauszubekommen versuchten, wie es ihrem Familienmitglied geht, ob es überhaupt noch lebt. Und Briefe bekamen, die sie vor dem Öffnen für Kondolenzschreiben hielten, die sich dann als Rechnung der Gerichtsmedizin erwiesen. Bis zur Einrichtung dieser Anlaufstelle, sagte Müller, werde sich die Schaltstelle beim Opferbeauftragten Weber befinden.
Viele ungeklärte finanzielle Fragen
Ulrike S. mag nicht zurückblicken. „Was schiefgelaufen ist, ist schiefgelaufen, darüber noch lange zu reden, was bringt das? Es sei denn, dass daraus Schlüsse gezogen werden, die zu positiven Entwicklungen führen.“ Aufgefallen beim Treffen im Roten Rathaus sei ihr, dass es noch viele ungeklärte finanzielle Fragen gibt. „Einige haben offenbar bis heute nichts bekommen. Bei anderen reicht es nicht.“ So gebe es für einen Todesfall 10.000 Euro, aber einen Großteil davon koste oft schon die Beerdigung. „Die Menschen haben unheimlich viel durchgemacht“, sagt sie. „Wenn es dann heißt, wir müssen über Abzüge reden bei Kosten, die tatsächlich entstanden sind, dann ist das menschlich nicht in Ordnung.“