Die alte Dame ist sichtlich gerührt. „Sie war ja enorm groß“, sagt Beate Hammett und lässt den Blick über den Garten und den angrenzenden Schulhof schweifen. Hier am Kreuzberger Fraenkelufer stand einmal eine der größten Synagogen Berlins – der Saal fasste bis zu 2000 Menschen. Der Architekt Alexander Beer hatte das Gotteshaus zwischen 1912 und 1916 im Auftrag der Jüdischen Gemeinde errichtet. Nun soll sie als erste in der Nazizeit und im Zweiten Weltkrieg zerstörte Synagoge in Deutschland wieder aufgebaut werden. Und Beate Hammett ist mit ihren 90 Jahren noch einmal in Australien ins Flugzeug gestiegen, um diesen Plan an Ort und Stelle zu unterstützen. Sie ist die Tochter des Architekten Alexander Beer.
Mit neun Jahren kam sie per Kindertransport nach London
Der Besuch an diesem Montag wühlt Emotionen auf. „Ich bin jetzt traurig, dass ich meinen Vater nie so richtig kennengelernt habe“, sagt sie tonlos auf Englisch und ein paar Tränen kullern unter der Brille hervor aus den sonst so munteren Augen. Sie kannte den Architekten nicht, meint sie. „Nur als Vati“, fügt sie auf Deutsch an.
Neun Jahre alt war Beate, als im November 1938 in Berlin und überall in Deutschland die Synagogen brannten. Auch die Gebäude Alexander Beers wurden ein Opfer des wohl organisierten Mobs. Ihre Mutter habe sie an der Hand genommen und ihr gezeigt, wie die große Synagoge an der Wilmersdorfer Prinzregentenstraße in Flammen aufging, erinnert sich die Seniorin. Auch sie war ein Werk des Vaters, der seit 1910 als Gemeindebaumeister in Berlin gewirkt und neben den zwei Synagogen das Jüdische Waisenhaus, die Mädchenschule in Mitte, das jüdische Altersheim in Schmargendorf und das Kriegerdenkmal auf dem Friedhof Weißensee entworfen hatte.
Nach der Reichspogromnacht setzten die Eltern alle Hebel in Bewegung und besorgten der neunjährigen Beate einen Platz auf einem der Kindertransporte nach England. Eine männliche Puppe habe sie dabei gehabt, erinnert sich die Australierin heute. Und ein Opernglas habe ihr die Mutter eingepackt. „Das ist ja nichts für eine Neunjährige“, sagt Beate Hammett, „aber sie ging davon aus, dass ich überlebe, groß werde und das gebrauchen kann.“ Das Glas hat sie dem Jüdischen Museum in Sydney vermacht.
Beate wuchs in London in einer Adoptivfamilie auf, ehe sie mit 18 zu einer Tante nach Australien auswanderte. Ihre Eltern wurden von den Nationalsozialisten im KZ Theresienstadt ermordet. Dennoch nennt sie Deutschland „eine zweite Heimat“. Sie zeigt sich großherzig: „Ich verbringe mein Leben nicht damit, über schlechte Erfahrungen zu klagen“, sagt sie. Die Reise nach Berlin habe ihr die Familie zum 90. Geburtstag geschenkt.
In Deutschland war sie nach dem Krieg schon vorher gewesen, zuletzt vor sechs Jahren. „Das ist ja ein neues Land jetzt“, sagt sie und wechselt immer wieder vom Englischen in ihre Muttersprache. Die Familie hat in der Nähe des Lützowplatzes gewohnt. Aber da sei alles weggebombt. Selbst der Tiergarten, wo sie als Kind spielte, sehe nun anders aus.
Der Aufstieg der Rechten besorgt die 90-Jährige
Dekel Peretz von der Jüdischen Gemeinde Fraenkelufer zeigt der Seniorin alte Fotos der Synagoge. Mit seiner zehn Monate alten Tochter Ronja auf dem Arm steht er für das Gemeindeleben, das auch durch Zuzug von Juden aus Israel und anderen Staaten wieder aufgelebt ist. Die Gemeinde braucht tatsächlich mehr Platz, der Bau wäre also nicht nur ein Symbol.
Ein Verwandter hatte vergangenes Jahr im Radio davon gehört, dass ein gewisser Raed Saleh die Initiative für den Wiederaufbau der Kreuzberger Synagoge gestartet habe, erzählt Beate Hammett. Dann las sie in Sydney darüber in internationalen Zeitungen. Und schließlich schickte sie dem Vorsitzenden der SPD-Fraktion einen handgeschriebenen Brief. „Der war sehr formal“, sagt sie und lacht verschmitzt.
Saleh reagierte, es entwickelte sich ein Schriftwechsel und jetzt sahen sich die betagte Jüdin und der deutsche Muslim zum ersten Mal. Immer wieder stecken sie die Köpfe zusammen und kicherten. „We are flirting“, sagte die alte Dame. Mit 90 dürfe man auch mal mit jungen Männern flirten. Sie fühle sich außerdem wie 70. Geistig ist Beate Hammett fit. Ja, sie sei besorgt über den Aufstieg der Rechtsextremen, das gebe es auch in Australien, sagt sie.
Raed Saleh erklärt er seine Motivation, sich für die Synagoge stark zu machen. Er will den Wiederaufbau als Mahnung verstanden wissen an „alle Spalter, Nationalisten, Nazis und Rechtspopulisten. In fünf bis sieben Jahren werde die Synagoge wieder stehen. „Wer baut, der bleibt“, sagt Saleh. Und wer für den Wiederaufbau von Schlössern spende, könne das auch für Synagogen tun.
Die Initiative findet weltweites Echo. Neulich gingen auf dem Konto des Fördervereins 3000 Euro ein. Ein paar Damen aus den USA hatten vom Wiederaufbau erfahren, ein Charity-Dinner organisiert und den Erlös gespendet. Beate Hammett ist jedenfalls sehr zufrieden mit dem, was sie sieht und hört. Als ihr Blick auf die Simulationen des wieder erstandenen Bauwerkes ihres Vaters fällt, blitzt ein Wiedererkennen in ihren Augen auf: „Das gefällt mir sehr gut.“