Berlin. Global, aber im Kiez: Die Zentrale des Internet-Lexikons Wikipedia liegt am Tempelhofer Ufer in Kreuzberg.
Den Kontrast zu dem, wofür diese Organisation steht, bilden verstaubt aussehende Druckwerke auf sieben Regalboden. Bis hinauf zur Decke des grau und weiß getünchten Raums am Eingang von Wikimedia Deutschland sind Bücher mit opulent verzierten und elegant beschrifteten breiten Einbänden aufgereiht. Es sind Nachschlagewerke mit gewichtigen Namen wie Encaeclopedia Britannica und Meyers Lexikon.
Dies, so erklärt Sprecher Jan Apel (39), seien Schenkungen von Menschen, die es sich zum Hobby gemacht haben, Beiträge für Wikipedia zu schreiben. „Hier, sagen sie dann: Nehmt meine Lexika und passt ein bisschen darauf auf. Ihr seid schließlich die, durch die sie nicht mehr recht gebraucht werden.“
In den Büroräumen wird die Software verbessert
Bei Fragen wird weltweit gegoogelt oder eben auf Wikipedia nachgeschaut. Die Enzyklopädie im Internet, die von Hunderttausenden Autoren fortgeschrieben und korrigiert wird, wurde 2001 in den USA gegründet. Im Juni 2004 konstituierte sich als nationale Außenstelle die Wikimedia Deutschland - Gesellschaft zur Förderung Freien Wissens e. V. Wikipedia firmiert 2018 als eine der zehn meistangeklickten Seiten im Intenet. Weltweit ist nach den USA in Deutschland der größte Verein angesiedelt. 65.000 Menschen sind hier eingeschrieben. Die meisten Mitarbeiter außerhalb den Vereinigten Staaten zählt Wikimedia unter den 40 Ländervertretungen in Berlin. Am Tempelhofer Ufer in Kreuzberg sind 90 bis 100 Menschen fest beschäftigt. In Großbritannien beispielsweise gibt es nur ein Dutzend.
Eine Global Player mitten im Kiez. Früher saß in diesem Gebäude an der Hochbahn einmal die Verwaltung der Lokomotivenhersteller Orenstein & Koppel. Im Carrée mit Möckern-, Obentraut- und Großbeerenstraße arbeiteten seit 1919 mehrere 1000 Menschen. Die Energie für Werkstätten kam von einer gebäudeeigenen Dampfmaschine. Heute ist das Haus denkmalgeschützt. Juristen, Medienmacher, Eventmanager teilen sich die Etagen, und was früher einmal die Eisenbahn leistete – Menschen zueinanderzubringen – das bietet inzwischen das Internet.
Junger Berliner Bürokultur
Bei aller internationalen Verletzung von Wikimedia: Die zwei Etagen am Tempelhofer Ufer sind unübersehbar von junger Berliner Bürokultur geprägt. Es gibt drei Büro-Hunde. Mit einem improvisiert wirkenden Ausdruck werden am Getränkeausschank Mitarbeiter forsch dazu ermahnt, nicht etwa den lezten Kaffee wegzutrinken ohne umgehend neuen zu kochen. Donnerstag ist Salat-Tag. Da bringt jeder Grünzeug mit, und dann wird an den zusammen geschobenen Tischen unter dem Enzeklopädien-Regal gemeinsam gegessen.
Anfangs reichte eine Altbauwohnung an der Eisenacher Straße in Schöneberg für den Verein. Dann musste in ein Nachbarhaus am Tempelhofer Ufer ausgewichen werden. 2012 vermittelte die Hausverwaltung die wiederum größere Bürofläche am Tempelhofer Ufer.
In zum Teil kurios ausgewiesenen Räumen – es gibt an mancher Tür Kennzeichen, ob sich dort Hunde-, Katzen oder Ziegenliebhaber befinden – sitzen Teams beisammen und konferieren. Andere tippen konzentriert in ihre Rechner.
Denn dafür, dass Wikipedia und seine Nebenangebote funktionieren, ist im Hintergrund wesentliche Arbeit nötig, die in Kreuzberg geleistet wird. Ganz handfest muss etwa im dritten Stock in Büros, aus denen nur das Klappern der Tastaturen dringt, jene Software variiert und verbessert werden, die die Wissensdatenbank nutzbar macht. Dafür, dass jeder daheim am Computer oder unterwegs auf dem Handy einen Eintrag nicht nur lesen, sondern gegebenfalls auch editieren kann, hier das Geburtsdatum eines US-Präsidenten korrigieren, dort das belegte Zitat eines Zeitzeugen einfügen, muss die Bedienbarkeit der Seite aktualisiert und optimiert werden.
Den Rhythmus, in dem die etwa 30 Programmierer und Softwareentwickler hier arbeiten, bestimmen sie selbst. Eine Wochenarbeitszeit von 40 Stunden ist vorgegeben. „Wer Familie hat, ist da natürlich zu den üblichen Tageszeiten da“, sagt Produktmanagerin Lydia Pitncher. „Andere nehmen sich Arbeitszeiten, die erst spät nachts enden.“
Für die 31 Jahre alte Charlottenburgerin beginnt der Tag zwischen acht Uhr und mittags, wobei ein erster Schwerpunkt auf den Dailies liegt: täglichen Minikonferenzen mit Gruppen oder Einzelnen ihres zwölfköpfigen Teams, die nicht mehr als zehn Minuten dauern, aber kurz und knapp die Agenda für den Tag oder die kommenden Aufgaben setzen. Weniger formeller Termin zum Austausch ist die Mittagszeit, wenn die Wikimedia-Angestellten etwa den Gleisdreieckpark oder die nahen Lunch-Oasen „Ökotussi“, „Pizzaslice“ und „Schnittchen“, die alle an der Großbeerenstraße gelegen sind, ansteuern. „Wir passen schon ganz gut nach Kreuzberg“, sagt Sprecher Apel.
Inzwischen machen Autoren sogar Forschungsreisen
Momentan arbeitet das Team am Projekt Wikidata. Dabei wird die Möglichkeit geschaffen, zukünftig mehrere Suchbegriffe zu verbinden. Etwa der Auftrag: „Nenne mir 20 Städte über 100.000 Einwohner mit weiblichen Bürgermeistern.“ Begriffe in allen Sprachen auszugeben, ist da eine Hürde, sagt Pintcher. Apel nennt als Beispiel die sprichwörtlich gewordene, angeblich hohe Zahl von Wörtern für Schnee in Eskimosprachen. „Wie verdeutlichen wir das dann im Koreanischen?“ sagt er. Ebenfalls vom Tempelhofer Ufer aus werden die Bemühungen Wikimedias gesteuert, in strategisch wichtigen Stellen wie dem Europa-Parlament eine Form von Urheberrecht einzufordern, das etwa gestattet, unter bestimmten Auflagen ein abfotografiertes Kunstwerk zu veröffentlichen. Lobbyarbeit, eben.
Für eine weitere Aufgabe haben sich zwei Mitarbeiter in den großen schmucklos-weißen Veranstaltungssaal zurück gezogen. Vom Ikea-Sofa blickt eine dunkelhaarige Frau mit kritischem Blick dem kräftig gebauten Kollegen entgegen, der ihr am Whiteboard die Tücken der Reise-Abrechnung erklärt. Denn Wikimedia macht Forschungsfahrten möglich. Aus ihren Erträgen von 6,8 Millionen Euro (2017), davon 2,3 Millionen Spendenerträge, finanziert die Organisation auf Antrag Projekte der Autoren, die sich zum Zweck der Ausarbeitung eines Themas auf Wikipedia zu Museen, Archiven und Bibliotheken fahren.
Das kann, und das deklinieren die Zwei im Verantaltungssaal gerade durch, auch eine Reise nach Schweden sein. Oder der Termin im Jagdschloss Grunewald. 15 Hobbyforscher erhalten von der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten ausnahmweise Zugang zu Gebäude und Archiv. Sogar eine Drohne dürfe aufsteigen und Aufnahmen seien erlaubt, was sonst nicht gestattet sei. Derlei sei, erklärt Sprecher Apel, für Nutzer der Online Enzyklopädie eine Möglichkeit, Einblicke in Vorgänge und Orte zu erhalten, die der Mehrheit sonst verborgen bleiben.
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