Berlin. Das Bier wird in Wasserkochern ausgeschenkt. Die Besucher sitzen auf Mikrowellen und speisen an Kühlschränken oder Arbeitsplatten, die auf Wäscheständern liegen. Dazwischen wabbelt und schwabbelt es in Form des Reichstags. „Noch jemand Brot?“, fragt Künstler Anton Peitersen, der McDonalds-Hemd und Krawatte trägt, seine Gäste. Die blicken auf, in einer Mischung aus unterhalten und neugierig. Sie sind an diesem Abend gekommen, um mal was anderes zu erleben: Im „Sülzensaal“ der Galerie Nothelfer in Charlottenburg geht Kunst durch den Magen.
„Man sitzt auf Kunst, isst Kunst, ist in Kunst drin“, beschreibt Co-Direktorin Vera Ehe das Happening des 2018 gegründeten Künstlerkollektivs Pegasus Product, zu dem neben dem Dänen Anton Peitersen die Künstler Dargelos Kersten und Gernot Seeliger gehören. Der„Sülzensaal“ im Showroom der Galerie ist zum einen Ausstellung. Besucher können die Kunstwerke aus Alltagsgegenständen, wie die Stühle aus Mikrowellen, das Sofa aus einer Kühltruhe, noch bis zum 9. Juli bestaunen und kaufen: donnerstags und freitags zwischen 12 und 19 Uhr und sonnabends zwischen 12 und 18 Uhr. Im Fenster der Galerie ist in einem Kühlschrank das zentrale Artefakt drapiert: Die Sülze in Reichstags-Edition, es gibt sie genau 150 Mal.
Sülze vom Neuköllner „Blutwurstritter“
Der „Sülzensaal“ ist eine Art Performance. Für 25 Euro pro Person laden die drei Künstler eine begrenzte Anzahl an Gästen zum Sülze-Essen ein. Weil die ersten vier Termine bereits auf so gute Resonanz stießen, gibt es noch zwei weitere: Und zwar am 23. und am 30. Juni 2022. Anmelden kann man sich unter der Telefonnummer (030) 25 75 98 06 oder (030) 887 285 98 sowie per E-Mail an nothelfer@galerie-nothelfer.de.
Sülze, so kann man sagen, spaltet die Gemüter: Fleischstückchen in Aspik, von denen man gar nicht so genau weiß, was sie sind, es vielleicht auch gar nicht wissen will. Das einstige Arme-Leute-Essen steht für Resteverwertung, traditionell werden etwa Schweinskopf und Kalbsfuß in Wasser gegart, bevor die Gelatine hinzukommt. Für andere wiederum gilt Sülze als Delikatesse. Die Sülze im „Sülzensaal“ hat der Neuköllner Fleischermeister Marcus Benser hergestellt, der sich auch „Blutwurstritter“ nennt – seine Blutwürste sind europaweit beliebt, man kennt ihn aus Kochshows mit Fernsehkoch Tim Mälzer. Daneben gibt es aber auch vegetarische Sülze aus Agar-Agar und Gemüse.
Die Künstler beschreiben Sülze mit „gôut du rue“, „Geschmack der Straße“: Sülze sei ähnlich zusammengestückelt wie die Spanplatten der Möbel, an denen die Gäste speisen. Auch dadurch ist jede Portion, die hier serviert wird, ein Unikat. Jeder Gast erhält eine zugehörige Serviette, in die die Seriennummer seines Sülze-Stücks eingestanzt ist. Erkennbar wird die Nummer aber erst, wenn die Serviette beschmutzt wird – zum Beispiel mit der gelben Soße der Vorspeise, einer Mini-Portion Kartoffelsalat.
„Wir trauen uns, die dümmsten Sachen zu machen“
Im „Sülzensaal“ gehe es um das Prozessuale, erklärt Co-Direktorin Ehe. Das Kollektiv nennt sich auch „Gemeinschaftspraxis“, die auf humorvolle Weise Lebensgewohnheiten hinterfragt. Bei der Performance „Taxes and Tantra“ brachten sie 2021 etwa Steuerberatung und Tantra-Massage zusammen. Die Galerie verwandelte sich in einen Massagesalon, während der Behandlung erhielten die Kundinnen und Kunden Tipps für ihre Steuererklärung. „Wir trauen uns, die dümmsten Sachen zu machen“, kommentiert Anton Peitersen die Arbeit des Kollektivs lachend. „Wir wollen bestehende Kulturen hinterfragen.“ Zum Beispiel die Konsumgesellschaft und industrielle Massenproduktion. Aus diesem Grund würden er und die anderen beiden McDonalds-Kleidung tragen. „So eine Corporate Identity hat ja etwas von einer Armee.“
Im „Sülzensaal“ wird der Besucher also Teil des Kunstwerks, das nicht nur als Accessoire an der Wand hängt, sondern in Verwendung ist und dadurch eine neue Dynamik entfaltet. Das Prozessuale entwickelt sich auch während des Essens: Die Gäste „sülzen“ sich, sozusagen, gegenseitig voll, Gespräche entfalten sich, das Bier tut den Rest. Kunstinteressierte sind unter ihnen, aber auch Menschen aus dem Kiez. „Ich kenne die Galerie schon seit Ewigkeiten“, sagt Andrea Curti, die in der Bleibtreustraße ein Hutmoden-Geschäft hat. „Ich finde die Idee mit dem Abendessen klasse, das bringt die Menschen zusammen.“ Der Andrang ist groß, die Gästeplätze schnell ausgebucht – und das im gesetzten Charlottenburg.
Der Showroom der Galerie Nothelfer befindet sich gleich gegenüber der Künstlerkneipe „Diener Tattersalls“, Grolmanstraße 28. Georg Nothelfer gründete die Galerie 1971 in der Uhlandstraße, den Showroom gibt es seit 2010. Jahrzehntelang widmete sich die Galerie dem Schwerpunkt deutscher Nachkriegskunst. Seit dem Tod Nothelfers befindet sie sich laut Co-Direktorin Vera Ehe im Wandel und öffnet sich zeitgenössischer Kunst.