Raus in die Stadtnatur

Natur - ein Spielplatz ohne Rutsche und Schaukel

| Lesedauer: 9 Minuten
Charlene Rautenberg
Marie, ihre Schwester Maren und Pascal entdecken in ihren Ferien die Pflanzen- und Tierwelt am Spieroweg in Spandau

Marie, ihre Schwester Maren und Pascal entdecken in ihren Ferien die Pflanzen- und Tierwelt am Spieroweg in Spandau

Foto: Massimo Rodari

In der Natur sammeln Kinder Erfahrungen fürs Leben. Darum ist auf Bäume klettern auch so wichtig.

Berlin. Der Weg zum Spieroweg in Spandau führt vorbei an Straßen mit Namen wie Obstallee, Sandstraße und Maulbeerallee. Dort angekommen, weicht der Fußgängerweg irgendwann einem sandigen Trampelpfad. Nach wenigen Minuten ist das Ziel erreicht: Hinter einem verwaschenen, hüfthohen Holzzaun fällt sofort das satte Gelb der Goldrute auf, die auf dem umzäunten Gelände wuchert. „Naturerfahrungsraum Wilde Welt“ steht auf einem kleinen grünen Metallschild, das am Gatter angebracht ist. Es richtet sich gleichermaßen an Eltern und Kinder – Letztere könnten dort mit etwas Fantasie ein „spannendes Abenteuerland“ vorfinden und auch ihre erwachsenen Begleiter werden eingeladen, mitzuspielen. Oder aber „die Vogelstimmen“ und das „Lachen ihres Kindes aus der Ferne“ zu genießen. Schon jetzt wird klar: Eltern sollen sich zurückhalten und ihre Kinder einfach mal machen lassen.

„Das hier ist ein Ort, an dem die Natur ohne Zwänge und Leistungsdruck erforscht werden kann“ sagt Robert Welzel, der den Naturerfahrungsraum am Spieroweg betreut. Er steht auf einer Art Vorplatz, dem „Elefantentanzplatz“, wie der Erzieher ihn nennt. Dickhäuter hat es dort wohl nie gegeben – bis vor drei Jahren war die große Freifläche eine Pferdekoppel. Nun toben dort Kinder auf Sandhügeln und hüpfen in die Pfütze vor einer Wasserpumpe. Oder beobachten Erdwespen, Bienen, Schwalben und Mauersegler.

Schaukel und Rutsche sind schnell vergessen

Spielgeräte gibt es in dem Sinne nicht. Wenn der Betreuer dann in enttäuschte Kinderaugen schaut, fragt er: Bist du denn schon mal auf einen Baum geklettert? Jemals eine Höhle gebaut? Selbst Marmelade hergestellt? Erfahrungsgemäß dauere es nicht lange, bis Rutsche, Schaukel und Co. vergessen sind. Auch ein festes Programm gibt es nicht, denn die Kinder sollen sich ohne Vorgaben selbst beschäftigen. Bei gutem Wetter kommen bis zu 80 Kinder pro Tag aus benachbarten Kindergärten und Schulen. Aber auch Einrichtungen aus Kreuzberg und Mitte haben schon einen Ausflug zum Spieroweg gemacht. Ansonsten steht das Areal jedem offen, der Erholung im Grünen sucht.

Kindern, die in der Stadt aufwachsen, fehlen oft Flächen, auf denen sie frei spielen, sich ausprobieren und die Natur entdecken können. Die Folgen sind Bewegungsmangel, Übergewicht und Konzentrationsstörungen. In den 1990erJahren wurde ein Konzept entwickelt, das dieser negativen Tendenz entgegenwirken sollte: Naturerfahrungsräume als neue Grünflächenkategorie.

Auch 30 Jahre später haben sie sich jedoch nicht als öffentliche Freiräume in Städten etablieren können. Im Fe­bruar dieses Jahres wurde deshalb auf einer Fach­tagung in Berlin die „Resolution für die Schaffung von Naturerfahrungsräumen in der Stadt“ verabschiedet. Auf den Weg gebracht wurde sie unter anderem von der Stiftung Naturschutz Berlin und Akteuren aus der Grün- und Umweltplanung der Landesministerien, Stadtverwaltungen und Naturschutzverbänden. Damit das Konzept bekannter wird, startete im August 2015 eine Testphase mit drei Pilotflächen in Marzahn, Pankow und Spandau. Die Flächen werden von den Bezirken Pankow und Spandau sowie der Grün Berlin GmbH zur Verfügung gestellt.

Betrieben werden die Naturerfahrungsräume von den Vereinen Spielkultur Berlin-Buch e. V., Staakkato Kinder und Jugend e. V. und dem Interkulturellen Netzwerk Umweltschutz. Sie stellen auf den Flächen Erzieher, die die Flächen betreuen, Kinder-und Jugendeinrichtungen informieren, Schnupperangebote machen und Aufklärungsarbeit leisten. Parallel wird das Projekt von der Hochschule für Nachhaltige Entwicklung Eberswalde wissenschaftlich begleitet. Finanziell gefördert wird es unter anderem vom Bundesumweltministerium, der Senatsumweltverwaltung und dem Bezirk Pankow.

Das Vorhaben hängt aber auch zu einem großen Teil vom Engagement Einzelner ab. Für Robert Welzel ist der Naturerfahrungsraum eine Art zweite Heimat geworden. Wenn man ihn über das Gelände begleitet, wirkt es so, als kenne er jeden Baum und jeden Strauch. „Für mich ist das ein Beruf und kein Job“, sagt er. Oft ist er auch außerhalb seiner offiziellen Arbeitszeit am Spieroweg. Er ist dort gleichzeitig Ansprechpartner für Kinder, Eltern und Erzieher. Derzeit betreut er auch Kinder, die an dem Ferienprogramm „Kinder in Luft und Sonne“ der Jugend-und Familienförderung Spandau teilnehmen. Rund 16 von ihnen kommen regelmäßig von morgens bis nachmittags zum Familienhaus Cosmarweg, das direkt gegenüber dem Naturerfahrungsraum liegt. In die unberührte Natur brauchen sie von dort aus nur wenige Schritte.

Unter den Obstbäumen, die im hinteren Teil des Grundstücks, dem sogenannten Urwald stehen, haben sich einige der Kinder versammelt. Darunter auch die neunjährige Marie aus Spandau. „Ich komme gerne hierher, um zu klettern und Obst zu sammeln“, sagt das Mädchen mit den roten, zu Zöpfen gebundenen Haaren. Neben ihr steht Erzieherin Dominique, die zusammen mit Robert Welzel die Ferienkinder betreut. Sie rüttelt an den Ästen, sodass die kleinen Pflaumen auf dem Boden und in der silbernen Schüssel landen, die ihr entgegengestreckt wird. Einige fallen den Kindern auf den Kopf.

„Wenn wir genug Obst gesammelt haben, gehen wir in das Familienhaus gegenüber und machen dort Marmelade“, sagt die 24-Jährige. Bis genug zusammengekommen ist, kann es einige Tage dauern. Das Angebot ist reichlich: Auf dem Gelände wachsen unter anderem Brombeeren, Mirabellen, Äpfel, Birnen, Pfirsiche und Aprikosen. Aus Holunderholz können Flöten gebastelt und aus den Blättern des Walnussbaumes Walnussöl gewonnen werden. Aus Holunderblüten haben Besucher auch schon Tee hergestellt.

Unweit der Obstsammler schaut der siebenjährige Pascal etwas verunsichert einen der Bäume an. In den dicken Ästen lassen schon zwei andere Kinder die Beine baumeln. Zu ihnen hinaufzuklettern, traut er sich zunächst nicht. Und auch Betreuer Robert will ihn nicht hochheben. Nach anfänglichem Zögern und ermutigenden Worten des Erziehers klettert Pascal dann doch auf den Baum. „Ein Kind, das weiß, dass es Rückendeckung hat, kann Selbstbewusstsein aufbauen und lernt, dass es Dinge auch alleine schaffen kann“ sagt Robert Welzel. Seine Philosophie: Hilfestellung ja, helfen nein.

Erzieher und Eltern waren anfangs skeptisch

Diese Herangehensweise ist bei einigen Eltern und Erziehern anfänglich auf Abwehr gestoßen. Zu hoch das Risiko, dass sich die Kinder verletzen. Aber auch das gehöre dazu. „Dadurch lernt man doch erst, seine Stärken und Schwächen einzuschätzen“, sagt der Erzieher. Kleine Wunden wie Kratzer und Schürfwunden kommen beim Spielen in der wilden Natur öfter vor. Deshalb hat der gelernte Rettungssanitäter den Kindern beigebracht, einander bei kleinen Verletzungen selbst zu versorgen. In einem Erste-Hilfe-Kurs wird sogar regelmäßig der Ernstfall geprobt. Schlimme Verletzungen habe es aber bisher noch nicht gegeben.

Während anfangs noch viel Überzeugungsarbeit nötig war, werde der Naturerfahrungsraum mittlerweile im Bezirk gut angenommen. Trotzdem ist noch unklar, wie es mit dem Projekt weitergehen wird. Eigentlich wäre es in diesem Monat ausgelaufen – vorerst konnte es bis zum Ende des Jahres verlängert werden.

Robert Welzel hofft, dass er seinen Posten auch nächstes und übernächstes Jahr behalten kann. Unterstützung bekommt er von der Stiftung Naturschutz und dem Grünflächenamt, die sich dafür einsetzen, dass der Naturerfahrungsraum bestehen bleibt. „Wir haben in Spandau viele Spielplätze und viele Grünflächen. Aber grüne Orte, an denen man spielen kann, gibt es nur wenige.“

Naturerfahrungsräume in Berlin

Zugang: Die Naturerfahrungsräume in Pankow, Marzahn-Hellersdorf, Spandau und Kreuzberg können wie öffentliche Grünanlagen und Spielplätze jederzeit besucht werden.

Spandau: Naturerfahrungsraum „Wilde Welt“ am Spieroweg, fast 10.000 Quadratmeter große, grüne Brachfläche mit „Dschungelcharakter“, Cosmarweg 71, 13591 Berlin

Pankow: Naturerfahrungsraum „Moorwiese“, etwas mehr als 5000 Quadratmeter zwischen Lichtungsbereichen und Jungholzbeständen in unmittelbarer Nähe eines Abenteuerspielplatzes, Wiltbergstraße 29B, 13125 Berlin

Marzahn-Hellersdorf: Naturerfahrungsraum auf dem Kienberg, fast vollständig bewaldete öffentliche Grünanlage mit etwa 16.000 Qua­dratmeter Fläche. Die Wald- und Hangstruktur ermöglicht auf kleinem Raum das unbeobachtete Spielen und Entdecken.

Kreuzberg: Naturerfahrungsraum „Robinienwäldchen“, auf der ehemals bebauten , 16.000 Quadratmeter großen Fläche konnten sich nach dem Zweiten Weltkrieg ungestört Pflanzen und Tiere ansiedeln, Hallesche Straße 131, 10963 Berlin

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