Keine Idylle ohne Schafe: Auch das Schloss Charlottenburg hat jetzt welche. Die Morgenpost-Serie, Teil 29.
Charlottenburg. Er schaut ihr tief in die Augen. Sie schaut ihm tief in die Augen. Sekundenlang. Er kommt näher, fixiert sie. Sie hält dem Blick stand. Dann macht es Klick zwischen beiden. Sie schaut ihn weiter an, aber er wendet sich ab. Richtet seine Kamera schon auf ein anderes Schaf. Sie schaut dem Fotografen noch kurz hinterher. Dann senkt sie ihren Kopf zum Boden. Grast und kaut und schaut. Als hätte es diesen magischen Augenblick eben nicht gegeben.
Vielleicht war er ja auch gar nicht magisch. Vielleicht kommt diese ganze Schäferromantik ganz von allein im Angesicht eines Schafes: Unschuld, Liebe, Schäferstündchen. Und dann auch noch an diesem Ort, mitten im Schlossgarten Charlottenburg. Welch eine Idylle.
Aber was machen die Schafe überhaupt hier? Die waren doch im vergangenen Jahr noch nicht da. „Ja, sie sind erst seit diesem Frühjahr hier“, bestätigt Parkleiter Gerhard Klein. Und nennt gleich drei Gründe. Mit den etwa 100 Tieren, die hier seit Mai stehen, soll an die traditionelle Weidewirtschaft angeknüpft werden. „Früher war es üblich, in Gärten und Parks Schafe einzusetzen, damit das Grün immer schön abgefressen ist.“
Schaf statt Yoga
Für den Schlossgarten Charlottenburg gebe es zwar keine Belege, dass hier tatsächlich auch einmal Schafe standen. Es existiere nur ein historisches Gemälde mit einer Ziege auf einer Weide vorm Schloss. Aber das heißt ja nicht, dass es die Schafe hier nicht gab. Zweitens ist da der ökologische Aspekt: „Es ist etwas anderes, wenn ich mit dem Mäher über die Wiese fahre, als wenn ein Schaf sie abfrisst“, sagt Klein. Bei der Maschine ist nach dem Mähen alles weg, auch die Insekten und ihre Behausungen, das Schaf aber futtere das Gras umweltschonender und erhalte so die Lebenswelten von Kleinsttieren. Und drittens geht gibt es noch den gesellschaftlichen Aspekt: „Die Schafe tragen auch zur Entspannung der Städter bei“, versichert Klein. Wenn ein Besucher im Park auf ein Schaf treffe und ihm zuschaue, wie es da so friedlich herumsteht und frisst und malmt, dann helfe das beim Stressabbau. Schaf statt Yoga, Määäh statt Ommm.
Und tatsächlich lassen sich die Passanten gerne auf die Schafe ein. Fast jeder bleibt stehen oder verlangsamt zumindest den Schritt. Auch der asiatische Tourist mit Rollkoffer und selbst der Jogger. Trotz der Hitze setzen sich manche sogar auf eine Bank davor, um den friedlichen Anblick der grasenden Schafe zu genießen. Ihr Smartphone holen sie höchstens für ein Foto aus der Tasche, Nachrichten werden später gecheckt. „Die Resonanz auf die Schafe ist bislang durchweg positiv“, bestätigt auch Parkleiter Gerhard Klein.
Für einen Schäfer hat die Arbeitswoche sieben Tage
Gern schaut auch Heiko Hopf mit seinem Sohn vom gegenüberliegenden Spielplatz vorbei. Der Einjährige blökt auf dem Arm auch gleich fachmännisch „määäh!“ und zeigt auf die Tiere, als sich die beiden der abgezäunten Wiese nähern. Klar, der Kleine kennt die Tiere schon. Wenn sein Vater als Schwimmtrainer gerade nicht am Beckenrand steht, ist er mit seinem Sohn gern hier. Irgendein Schaf kommt sicher auf sie zu, es sind kontaktfreudige Tiere.
Und noch jemand kommt regelmäßig: Björn Hagge. Fast jeden Tag ist er hier, schließlich gehören ihm die Schafe. Dass er der Schäfer ist, erkennt man aber nicht gleich. Hagge kommt ohne Bart, Filzhut, Stock und Buch. Dafür mit Auto, in der Frontscheibe ist mit Saugnapf ein amtliches Schild mit Berliner Bär festgemacht: „Schäfer im Einsatz“. Für Schäferromantik ist er aber auch nicht der Typ, und die Zeit dafür fehlt ihm sowieso. Sieben Tage die Woche, sechs bis zwölf Stunden pro Tag ist er unterwegs.
Viele Tiere über die Stadt verteilt
Insgesamt 550 Tiere hat Björn Hagge, 530 Schafe und 20 Ziegen. Ihr Zuhause ist ein 30 Hektar großes Gelände am Hahneberg in Spandau, aber von Frühjahr bis Herbst sind viele Tiere über die Stadt verteilt. Bei den meisten schaut er täglich nach dem Rechten, ob der Zaun in Ordnung ist und vor allem, wie es den Tieren geht und ob sie genug zu fressen haben. Wenn nicht, dann müssen sie umgesetzt werden.
Und das passiert in diesem heißen Sommer häufig. „Nach vier, fünf Tagen ist auf einer Fläche alles weggefressen“, sagt Hagge, „dann müssen sie auf eine neue Portionsweide.“ Noch vor drei Tagen standen die Halme hier meterhoch, nun sind nur noch Disteln übrig. Wenn die auch weg sind, kommen die Schafe auf einen anderen Platz.
Dann müssen Julie oder Jake helfen, die beiden Hunde von Schäfer Hagge. Heute hat er nur Jake dabei, einen Border Collie. Kaum ist er über den Zaun gesprungen, laufen die Schafe zusammen. „Einpferchen“ ist ja auch sein Job als Hütehund. Für die Schafe ist er sogar mehr Autorität als ihr Schäfer, aber damit kann Hagge leben. So schnell kann ihn ohnehin nichts aus der Ruhe bringen. Vielleicht liegt das am Umgang mit den Schafen, vielleicht auch daran, dass der 59-Jährige aus Schleswig-Holstein stammt und von dort eine gewisse Gelassenheit mitbringt. Und eine unverkennbare Färbung, wenn er erzählt, wie er zu den Schafen gekommen ist.
Schuld ist der Nachbar, der war Schäfer und mit ihm zog Hagge als kleiner Junge los. Aber den Beruf des Schäfers konnte er sich zunächst nicht vorstellen, er wurde Agraringenieur und hat jahrelang im Norden soziale Projekte geleitet. Die Schafe waren Hobby. Angefangen hat er mit zwei Tieren. Und dann wurde ein Stadtschäfer in Berlin gesucht.
Seit 2012 arbeitet er nun im Auftrag der Senatsumweltverwaltung, der Bezirke und auch eines Immobilienentwicklers. Am Flughafensee in Tegel, im Schöneberger Südgelände, in der Murellenschlucht in Westend, an mehreren Stellen im Grunewald, im Quartier Parks Range in Lichterfelde und im Biesendorfer Sand in Karlshorst hat er Herden stehen.
Schäfer fordern Weideprämie
Als Stadtschäfer hat Hagge eine Nische gefunden, „von der ich leben kann“. Auf dem Land bräuchte er dazu etwa dreimal so viele Tiere. Das Scheren ist teurer als die Einnahmen für die Wolle, die Fleischpreise sind niedrig, 2005 fiel die Mutterschafprämie weg. Die Schäfer warnen seit Jahren, dass ihr Beruf vom Aussterben bedroht ist und fordern eine Weideprämie. Bisher ohne Erfolg. Nur einzelne Projekte zur Landschaftspflege, etwa zum Erhalt der Deiche, werden gefördert.
In der Stadt aber sind die Schafe willkommen und überhaupt im Kommen. Vor etwa 15 Jahren hat diese Entwicklung begonnen. Wiederbelebung alter Weidewirtschaft, Umweltschutz und Beruhigung der Städter, die drei Motive, die von der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, zu der Schloss Charlottenburg gehört, als Argumente genannt werden, führt auch Derk Ehlert, Tierexperte bei der Senatsverwaltung für Umwelt an. Und noch etwas: „Die Schafhaltung ist meist kostendeckend“, sagt Ehlert, also nicht teurer als die Bearbeitung der Fläche mit Maschinen. Das sei auch im Schlossgarten Charlottenburg der Fall, versichert Parkleiter Klein. 8000 Euro werden in diesem Jahr veranschlagt, nicht mehr, als das Rasenmähen kosten würde.
Im Auftrag des Landes Berlin sind Hagges Schafe am Hahneberg und im Grunewald im Einsatz. Außerdem lässt die Stadt noch auf dem Flugfeld Johannisthal wollige Rasenmäher arbeiten, allerdings betreut von einem anderen Stadtschäfer. Wie viele Schafsbewohner Berlin inzwischen hat, zählt niemand, denn es gibt keine obersten Schafswächter und auch Vereine wie die Domäne Dahlem und die Agrarbörse halten Schafe.
Als Haustier eignet sich der Wiederkäuer aber weniger. Immer wieder gibt es zwar Ideen zur Schafsvermietung an Privatgärtner, aber in Berlin hat kaum jemand einen Garten in der Größe, dass sich die Haltung lohnen würde. „Außerdem fressen sie ja nicht nur Gras, sondern gehen auch an Gehölz und Obstbäume“, sagt Hagge.
Schafe lassen sich vom Stadtlärm nicht beeindrucken
Ansonsten sind Schafe aber unkompliziert. Die Menschen, der Lärm, all das bringe die Tiere nicht aus der Ruhe, so Björn Hagge. Selbst die Schafe, die am Hahneberg manchmal direkt an der Heerstraße stehen, seien von der vierspurigen Straße völlig unbeeindruckt. Auch die Tiere, die im Vogelschutzgebiet am Flughafen Tegel jeden Start und jede Landung mitbekommen, ließen sich vom Grasen nicht abbringen.
Vielleicht liegt es auch an der Rasse, die Björn Hagge überwiegend hält: Gehörnte Gotlandschafe mit den auffälligen gedrehten Hörnern. Es ist Schwedens älteste Landschafrasse. Robust und unkompliziert. Ihr Fell verlieren die Tiere von allein, nur einmal im Jahr lässt der Schäfer sie scheren. Genannt werden sie auch Guteschafe, eine Abkürzung des schwedischen Namens. Seit einigen Jahrzehnten stehen diese Schafe auch in Deutschland auf Wiesen, vor allem im Norden.
Was Björn Hagge auch an der Rasse gefällt, ist die Charakterstärke: „Es sind selbstbewusste und offene Tiere, die nicht gleich in Panik geraten.“ Es sei denn, sie werden angegriffen. Der Wolf hat es noch nicht bis in die Stadt geschafft, der Hund aber ist hier überall. Schon ein paar Mal ist einer über den Zaun gesprungen und hat ein Schaf gerissen. „Manchmal wurden die Hunde dabei sogar von ihrem Besitzer angestachelt“, hat Hagge beobachtet.
Im Schlossgarten Charlottenburg ist aber bislang noch nichts passiert. Dürfte ja eigentlich auch gar nicht, schließlich herrscht hier Leinenpflicht. Am Eingang zum Park stehen entsprechende Hinweisschilder. Aber das ist Theorie, die Praxis sieht an diesem Morgen anders aus. Doch es sind nur friedliche Hund unterwegs, egal ob mit oder ohne Leine. Außerdem ist es für einen Angriff zu heiß und der Zaun steht ja auch unter Strom. Immerhin eine Joggerin hält kurz vor der Weide inne, leint ihren Hund an und ein gutes Stück dahinter wieder los.
Bilanz der ersten Schafsaison positiv
Die meisten Besucher verhielten sich sehr diszipliniert, versichert Parkleiter Gerhard Klein. Auch das Füttern würden sich die meisten verkneifen. Eine Landschaftspflegerin weiß aber, dass die Tiere schon ein paar Mal beworfen wurden, zuletzt mit Dosen. Aber das sei eine Ausnahme. Es sieht also ganz danach aus, dass die Bilanz der ersten Schafsaison am Schloss Charlottenburg positiv ausfallen wird.
Im Herbst, wenn Hagge die Tiere wieder in seinen Anhänger geladen und zum Hahneberg gefahren hat, wird ausgewertet, so der Parkleiter. Wenn der Daumen dann nach oben zeigt, werden die Schafe nach der Winterpause wiederkommen. Um zu fressen, zu kauen, zu schauen und dabei sicher auch zur Entspannung der Städter beizutragen.
Wo Berlins Schafe weiden
Standorte
Die Schafe von Björn Hagge stehen zum Beispiel im Schlossgarten Charlottenburg, am Hahneberg in Spandau, im Grunewald an der Düne und nahe der Kiesgrube, in der Murellenschlucht an der Waldbühne oder im Schöneberger Südgelände. Die meisten sind gehörnte Gotlandschafe, zu erkennen an den auffälligen Hörnern. Aber es gibt auch andere Rassen. Im Landschaftspark Herzberge zum Beispiel beweiden seit 2009 Rauhwollige Pommersche Landschafe im Auftrag des Bezirksamtes Lichtenberg die Wiesenflächen.
Führungen
Zusammen mit dem Landschaftspflegeverband Spandau (LPV) bietet Schäfer Björn Hagge für Kita-Gruppen und Schulklassen auch Führungen zu seinen Schafen am Hahneberg an. In der Lämmerzeit dürfen die Kinder die Tiere dann auch füttern und den Jungtieren die Flasche geben. Infos dazu unter lpv.de/verbaende-vor-ort/adressen-berlin oder Telefon: 030 - 3615-052 und 030 - 3628-4900.
Ausstellung
Zum das Thema Wolle läuft derzeit eine Ausstellung im Museum Europäischer Kulturen, Arnimallee 25 (Dahlem), in der das Schäferleben und die Gewinnung der Wolle gezeigt werden.