Raus in die Stadtnatur

Abtauchen unter Bäumen: Wie man im Wald badet

Diplom-Psychologin Lia Braun ist zertifizierte Waldtherapieführerin und bietet seit zwei Jahren Waldbaden in Berlin an

Diplom-Psychologin Lia Braun ist zertifizierte Waldtherapieführerin und bietet seit zwei Jahren Waldbaden in Berlin an

Foto: Jörg Krauthöfer

Stresstherapie unter Bäumen: Waldbaden ist Trend, hat aber rein gar nichts mit Wasser zu tun. Der neue Teil der Morgenpost-Serie.

Berlin. „Ein Waldspaziergang, also echt!“, gab mir ein Kollege noch mit auf dem Weg, „das haben wir als Kinder schon gehasst.“ Andere fragten spöttisch: „Liebst du jetzt Bäume?“ Ich gebe zu: Als Kind fand ich es auch öde, hinter Erwachsenen herzulaufen. Und nein, ich bin nicht auf Sinnsuche. Aber ein Gefühl – vielleicht Neugier? – sagt mir, dass dieser neue Naturtrend namens „Waldbaden“ für mich erfunden worden sein könnte. Für Menschen, die schon als Kind lieber in den Wald hineinliefen, statt brav spazieren zu gehen. Die das aber heute nicht mehr tun. Warum auch immer. Also meldete ich mich an.

Seit Wissenschaftler in Japan belegten, wie gesund der Aufenthalt im Wald ist, findet „Shinrin-yoku“ (Japanisch für Waldbaden) weltweit immer mehr Freunde. Allein auf Deutsch gibt es rund 20 Ratgeberbücher dazu. Zuletzt brachte Barbara Becker, Designerin und Ex-Frau von Boris Becker, den Trend in die Schlagzeilen, als sie einen Baum umarmte und sich zum Waldbaden bekannte. Dabei gehe es nicht ums Eichelnsammeln und Pilzesuchen, erklärte sie, sondern darum, sich bewusst auf die Natur einzulassen.

Barbara Becker badete in einem Wald in Tirol, aber immer mehr Angebote gibt es auch überall in Berlin. Denn man braucht dafür nicht etwa einen Waldsee – Waldbaden hat gar nichts mit Wasser zu tun. Sondern mit der Grundidee des Bades: komplett einzutauchen in die Natur. Mit allen Sinnen. Sozusagen als Gegenentwurf zum stressigen „Bad in der Menge“, das man in der Stadt ja oft unfreiwillig nimmt.

Als hektischer Stadtmensch kopfüber in den Wald

Also: Als hektischer Stadtmensch kopfüber in den Wald – und als geerdete Person wieder heraus? Am Bahnhof Wannsee renne ich erst mal los, weil der Linienbus schon wartet, der mich zum Treffpunkt bringen soll. Mein erstes Waldbad soll im Düppeler Forst stattfinden. Haltestelle Rübezahlweg. Der Fahrer grinst, als ich schwitzend in den Bus stolpere.

Lia Braun wartet an der Haltestelle auf die Teilnehmerinnen. Das heutige Treffen heißt „Waldbaden für Frauen“. Die Diplompsychologin aus Prenzlauer Berg ist ausgebildete Natur- und Waldtherapeutin, mehr weiß ich über sie nicht. Sie lächelt, als sie uns als Erstes versichert: Waldbaden habe nichts mit Esoterik zu tun, „auch nichts mit Sport, Wandern oder Naturkunde“. Während sie spricht, starre ich auf ihre Füße. Die Psychologin, eine zierliche Frau in Jeans, Bluse und kurzem, silbergrauen Haar, trägt schwarze Zehenschuhe aus dem Outdoorladen, die ein besonders stressfreies Laufen versprechen. Die trage sie gern, sagt sie, „aber für das Waldbaden sind sie nicht notwendig“. Überhaupt gebe es kein Richtig und Falsch, fürs Waldbaden brauche man kein Equipment. Im Gegenteil.

Beim Waldbaden gehe darum, etwas hinter sich zu lassen, die hektische Stadt, den anstrengenden Alltag. „Es ist eine absichtslose Zeit, die man mit sich selbst in der Begegnung mit der Natur hat. So etwas gibt es ja heute kaum noch.“ Um die Gedanken zurückzulassen, oder, wie die Psychologin sagt, „um aus dem Kopf in den Körper zu kommen“, lenkt sie unsere Aufmerksamkeit darauf, die Eindrücke rundherum über unsere Sinne wahrzunehmen.

Die Sonne auf unserer Haut. Die trockenen Blätter unter unseren Füßen. Die feuchte Erde des Waldbodens, es hat in der Nacht geregnet. Sie nimmt etwas davon auf, wir schnuppern daran. Albern? Nein, man hat sofort die Bilder im Kopf. Vom Herbst, von Regenwürmern, was auch immer. Man ist abgelenkt. „Aus dem Kopf“ eben. Dann laufen wir – sehr langsam und absichtslos – ein Stück in den Wald und machen jenseits des Weges Halt.

Wir suchen uns jede einen Platz, der uns zusagt. Lia Braun hat dafür Matten mitgebracht. „Ich lade euch ein, zunächst all das wahrzunehmen, was es zu tasten und zu spüren gibt. „Einladungen“, lerne ich später, ist das Wort, das beim Waldbaden für die Übungen verwendet wird. Alle dürfen sie so abwandeln, dass es ihrem Wohlbefinden dient. Minutenlang liegen wir auf dem Rücken. Ich schließe die Augen, erst ganz am Ende kommt das Sehen: Wir schauen auf Blätter im Wind, sich wiegende Kiefern. Mir fällt auf, dass ich zum ersten Mal Grashalme von unten sehe. Mit der Hand taste ich auf etwas Zerbrechliches: ein halbes, hellgrünes Ei. Über mir stößt ein Vogel Warnlaute aus. In der Ferne hört man Musik.

"Die beruhigende Wirkung ist fast sofort spürbar ist“

Was will der Mensch im Wald? Als Kind hätte ich gesagt: spielen. Als Erwachsene, sagt Lia Braun, ist uns dieses Waldbedürfnis weitgehend abhandengekommen. „Das ist eigentlich erstaunlich, denn die Natur ist ja die Basis von allem, der Planet Erde ist der Ort, auf dem wir leben.“ Der US-amerikanische Soziobiologe Edward O. Wilson hat dafür das Fachwort „Biophilie“ geprägt. Es besagt, dass Menschen ein Grundbedürfnis haben, mit der Natur in Verbindung zu treten. Fest steht: Der Aufenthalt im Wald gehört in der ganzheitlichen Medizin längst zur Gesundheitsvorsorge. Er beruhigt und beeinflusst nachweislich unser Nervensystem, das gerade in der Stadt, bei der Arbeit, im Alltag unablässig auf „Wachsamkeit“ geschaltet ist. Lia Braun sagt: „Das Schöne ist, dass beim Waldbaden die beruhigende Wirkung fast sofort spürbar ist.“

Als zweite „Einladung“ regt sie an, uns für eine Viertelstunde ganz langsam durch den Wald zu bewegen, jede für sich, und auf all das zu achten, was sich bewegt. Zeitlupe als Herausforderung: Jeder Schritt wird zum Erlebnis. Das weiche Moos unter den bloßen Füßen: Es ist kühl und feucht wie ein Schwamm. Die Zehen tasten kleine Fichtenzapfen im Moos. Ich bewege mich wie ein Auto, das ohne Lenkung und Motor ausrollt. Fühlt sich so Entschleunigung an?

Bewegung: Ein einzelnes Blatt fällt durch flimmernde Sonnenstrahlen. Langsam, ziellos, lautlos. Und kommt doch unten an. Ein Specht klopft. In der Ferne rumpelt der Linienbus vorbei. Irgendwann stelle ich fest, dass ich zwei Eicheln in der Hand halte, hellgrün, glatt, kühl. Wo sind die anderen?

Ich lasse mich einladen von zwei Baum-Nachbarn

Lia Braun ruft uns mit einer Flöte. Plötzlich treten wir alle aus dem Grün wieder hervor. Und müssen lächeln. Die Psychologin wirkt unter den riesigen Bäumen wie ein Hirtenjunge mit ihrer schmalen Gestalt und der Flöte aus einem geschnitzten Holunderast.

Nach jeder Übung werden Erfahrungen ausgetauscht. Niemand muss, jeder darf – zugegebenermaßen ist es wohl das, was am meisten Überwindung kostet. Lia Braun, die Waldbaden auch für gemischte Gruppen anbietet, sagt: Die meisten Teilnehmer seien Frauen, nur etwa ein Fünftel sei männlich, und viele jenseits der 40. „Es sind oft Menschen“, sagt sie, „die wissen, wie es sich anfühlt, wenn man über Grenzen gegangen ist.“ Das kann positive wie negative Erfahrungen meinen.

Im Positiven überschreiten wir jetzt eine Grenze gemeinsam: unsere Scheu, vor Fremden über die Waldempfindungen zu sprechen. Es geht um den Wald als Sinnbild von Gemeinschaft und Nachbarschaft. Eine Teilnehmerin sagt: Das Moos wirkt auf sie wie ein Raum, in dem man sich warm betten und wohlfühlen kann. Dann erkunden wir diesen Raum gemeinsam. „Gibt es einen Eingang, gibt es Begrenzungen?“ fragt Lia Braun nach – Nein, finden wir, der Wald ist ein eher offener Bereich. Unsichtbare Barrieren gibt es aber schon. Ich habe eine zerstört: Ein Spinnennetz hängt an meinem Bein. Eine kleine Spinne holt empört ihre Fäden ein wie ein emsiger Fischer sein Netz. Bei einem normalen Spaziergang hätte ich das nie bemerkt.

Die letzte Übung: 20 Minuten an einem selbst gewählten Ort im Wald sitzen, schweigen und nichts tun. Was vor zwei Stunden noch eher absurd schien, geht jetzt ganz von selbst. Ich lasse mich einladen von zwei Baum-Nachbarn, die eng zusammenstehen. Mit dem Rücken lehne ich an dem einen, am anderen stütze ich mich mit den bloßen Füßen ab. Der Blick geht nach oben. Ferienflieger ziehen über den blauen Himmel. Zapfen fallen. Ein Schiff tutet. Man möchte die Augen schließen und einfach verreisen, ohne den Baum zu verlassen, an dem man sitzt – bis ein Donnern die Stille zerreißt. Mountainbiker, Sendboten der Stadt, die durch den Wald brechen.

Den Schluss unseres Bades bildet ein gemeinsamer Tee. Tatsächlich aus Brombeer- und Birkenblättern und Beifuß gemacht, Lia Braun hat die Blätter gesammelt und in einer Thermoskanne mit heißem Wasser ziehen lassen. Sie richtet eine kleine japanische Teezeremonie auf dem Waldboden an: Für jeden eine kleine Schale plus ein Schälchen für die Erde, das sie jetzt ausgießt. Ab jetzt wird wieder gesprochen. Eine Teilnehmerin sagt: Sie habe das beruhigende Gefühl, dass die Erde sie trägt. Eine andere: Sie fühle sich jetzt nicht mehr „getaktet“ wie sonst im Alltag. Und wir alle finden es angesichts der Hitze in der Stadt beeindruckend, wie sehr der Wald Schatten, Kühle, Wasser und Duft gespeichert hat.

Als Psychologin, sagt Lia Braun, bestehe ihre Arbeit daraus, Menschen zu helfen, „wieder in ihre eigene Kraft zu kommen, ihr eigenes Leben zu leben“. Aber auch ihr selbst tue der Waldaufenthalt einfach gut. Sie bietet schon länger Waldseminare an, die über mehrere Tage laugen. Das Waldbaden macht sie seit zwei Jahren. „Es hat mir deswegen gefallen, weil es sich in den Alltag einbauen lässt, wo es Entlastung am ehesten gebraucht wird.“

Etwa ein Drittel ihrer Besucher kommt regelmäßig wieder. Demnächst plant sie auch Treffen, die aufeinander aufbauen. Auch ein Angebot für Senioren kann sie sich vorstellen. „Ältere Menschen finden im Wald oft etwas wieder.“ Kann man auch alleine Waldbaden? Im Prinzip ja. Aber in der Gruppe falle es leichter, den „Einladungen“ zu folgen. „Und man fällt vielleicht auch im Wald weniger auf.“ Denn eins räumt sie selbst ein: „Wenn jemand in Zeitlupe durch den Wald oder einen Park schleicht, fällt er auf. Die Leute drehen sich um, und das lenkt einen wiederum von den Übungen ab.“

Wir sitzen noch eine Weile im Schatten der Bäume. Ein Blick auf die Uhr: Sind die drei Stunden tatsächlich schon vorbei? Ich stehe auf. Ein zweites Mal wird der Bus nicht auf mich warten. Trotzdem schlendern wir alle entspannt zum Bus. Als ich später zwischen Tastatur und Telefon zwei kleine Eicheln finde, weiß ich: Ja, das Waldbaden funktioniert.

Waldbaden: Hintergrund und Termine in Berlin

Waldbaden: Den Begriff Shinrin-yoku (Waldbaden) prägte 1982 das japanische Forstministerium als Slogan, um die Menschen wieder dazu zu bewegen, den Wald zu besuchen. Heute ist es in Japan und Südkorea fester Bestandteil der Gesundheitsvorsorge. Wissenschaftler forschten zu den gesundheitlichen Auswirkungen: Ein Bad im Wald senkt den Blutdruck, reguliert den Puls,reduziert Stresshormone. Inzwischen gibt es weltweit Institute, die Waldtherapien und Waldmedizin anbieten und auch darin schulen. Auch die Ludwig-Maximilians-Universität in München wird ab dem Frühjahr 2019 Waldgesundheitstrainer ausbilden.

Lia Braun Die Diplom-Psychologin aus Prenzlauer Berg ist zertifizierte Waldtherapieführerin der Association of Nature and Forest Therapy (USA).

Tag des Waldbadens: Am 8. September ist internationaler Tag des Waldbadens – dazu gibt es eine Einladung in den Düppeler Forst: Sbd., 8. September, 17 bis 20 Uhr, Dauer zwei bis 3,5 Stunden, Kosten: 15 Euro. Anmeldung, Info und weitere Termine zum Waldbaden: www.naturspirale.de

Bücher: Yoshifumi Miyazaki: „Shinrin Yoku – Heilsames Waldbaden. Die japanische Therapie für innere Ruhe, erholsamen Schlaf und ein starkes Immunsystem.“ Der weltweit führende Shinrin-yoku-Experte Yoshifumi Miyazaki vereint altes Wissen mit neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen aus der Umweltmedizin und Waldtherapieforschung. Irisiana-Verlag 2018, ca. 17 Euro. Qing Li: „Die wertvolle Medizin des Waldes: Wie die Natur Körper und Geist stärkt.“ Qing Li erklärt das Waldbaden aus der japanischen Kultur und Tradition, die mit dem Wald verbunden ist. Rowohlt, ca. 17 Euro. Annette Bernjus: „Waldbaden: Mit der heilenden Kraft der Natur sich selbst neu entdecken.“ Die Autorin gründete 2018 die „Deutsche Akademie für Waldbaden“. Im Buch beschreibt sie „zehn Zutaten, die uns helfen, in der unverfälschten Natur wieder zu uns selbst zu finden“. mvg-Verlag, 2018, ca. 15 Euro.

Alle Teile der Stadtnatur-Serie