Raus in die Stadtnatur

Wovon Berlins Bäume träumen

Die etwa 450 Jahre alte „Dicke  Marie“ im Tegeler Forst, eine Stieleiche, verdankt ihren Namen angeblich den jungen Humboldt-Brüdern

Die etwa 450 Jahre alte „Dicke Marie“ im Tegeler Forst, eine Stieleiche, verdankt ihren Namen angeblich den jungen Humboldt-Brüdern

Foto: Reto Klar

Sie beschirmen uns vor der Sonne, spenden Sauerstoff – und haben Geschichte erlebt. Berlins älteste, schönste und spannendste Bäume.

Berlin. Dieser Sommer in Berlin ist spektakulär. Hat beste Chancen, ein Jahrhundertsommer zu werden mit seiner außerordentlich hohen Anzahl an heißen, extrem sonnigen Tagen. Der nahezu wolkenfreie Himmel sorgt für gute Laune – vor allem am Abend, wenn die Hitze nachlässt und der Backofen Berlin die Temperatur wieder etwas drosselt. Geradezu traumhaft ist es, die hellen Abendstunden für einen kleinen Spaziergang im Park zu nutzen und darüber nachzudenken, wie dankbar wir Menschen den Bäumen als natürliche Temperaturregler sein sollten.

Sie bringen neben ihrer ästhetischen Schönheit so viele Kompetenzen mit: Sie fangen Staub, schlucken Schall und spenden kühlenden Sch atten. Rund 433.000 Straßenbäume leisten diesen Job tagtäglich in Berlin, die achtfache Zahl kommt geschätzt in privaten Gärten hinzu. Allerdings meistert nicht jeder dieser Bäume die aktuellen Wetterkapriolen gleich gut. Ganz anders als bei uns Menschen ächzen vor allem die jungen Bäume unter der Hitze. Sie laufen Gefahr zu verdursten. So wie vor einigen Wochen die 531 Bäume im Landschaftspark Johannisthal, die abgestorben sind. Rund zehn Jahre nach ihrer Pflanzung mussten sie gefällt werden. Der finanzielle Schaden beläuft sich auf rund 300.000 Euro.

Eine alte Buche hat 1600 Quadratmeter Blätterfläche

So viel zum materiellen Aspekt, schlimm genug. Beim Nachdenken über den immateriellen Schaden verliert der Abendspaziergang seine heitere Note. Ist der überhaupt zu beziffern? Wie viele Lebensformen haben dadurch ihr Zuhause verloren? Wurzel, Stamm und Krone eines Baumes bieten einer Vielzahl von Lebewesen Raum und Nahrung – angefangen bei Bakterien und Pilzen, über Insekten und Vögel bis hin zu den Eichhörnchen und Fledermäusen.

Je älter ein Baum wird, umso üppiger sein Angebot für alles, was kreucht und fleucht. Deshalb kommt alten Bäumen eine äußerst wichtige Rolle in der Stadtnatur zu – wie das Beispiel einer alten Buche zeigt: Sie hat 1600 Quadratmeter Blätterfläche, verdunstet täglich bis zu 400 Liter Wasser und senkt die Temperatur um bis zu fünf Grad Celsius ab. Würde diese alte Buche gefällt, müssten 2500 junge Stadtbäume dafür gepflanzt werden.

Um solche düsteren Gedanken zu verscheuchen, denke ich darüber nach, dass viel getan wird, um alte Bäume zu erhalten. Laut Senat verfügt Berlin über mehr als 600 Naturdenkmale – die meisten sind pflanzliche Lebensformen, die als schützenswert erachtet werden. Weil sie besonders alt, außergewöhnlich schön oder selten sind. Oder auch, weil sie einen Wert für Wissenschaft, Heimatkunde oder Naturverständnis mitbringen.

Berlins bekanntestes Naturdenkmal ist eine alte Lady, eine Stieleiche. Der vermutlich älteste Baum der Stadt ist im Tegeler Forst zu finden, ihm hat man den derben Namen „Dicke Marie“ verpasst. Die dicke Dame wurde zuerst auf ein Alter von 900 Jahren geschätzt, das ist inzwischen auf 450 Jahre gesenkt worden. Angeblich haben die jugendlichen Humboldt-Brüder Alexander und Wilhelm dem Baum den Namen gegeben. Die Sommer verbrachten sie im Tegeler Schloß, bekocht von einer kugelrunden Köchin namens Marie. Angeblich hat auch der deutsche Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe unter ihren Blättern gesessen und hing dort seinen Gedanken nach. Übrigens ist nach den Humboldts eine weitere Eiche im Schlosspark Tegel benannt.

Ähnlich betagt wie die „Dicke Marie“ ist die Humboldt-Eiche mit ihren beeindruckenden Maßen: der Umfang des Stamms misst 7,80 Meter, der Kronendurchmesser beträgt 18 Meter, die Höhe wird mit 29 Metern angegeben.

Die herausragende Ehre, als höchster Baum Berlins zu gelten, hat die Burgsdorff-Lärche. Wer neben der „Dicken Marie“ steht, wendet sich in Richtung Westen und wandert etwa zwei Kilometer durch den Tegeler Forst zum Mühlenweg. 1795 gepflanzt, reckt sich der Baum der Gattung Europäische Lärche 42,5 Meter hoch in den Himmel. Ihren Namen trägt sie in Erinnerung an die Verdienste des geheimen Forstrats Friedrich August Ludwig von Burgsdorff, der es als Botaniker und Forstwissenschaftler zum königlich-preußischen Oberforstmeister der Kurmark Brandenburg brachte.

Nicht nur am Stadtrand, auch in den innerstädtischen Bezirken sind schützenswerte Naturdenkmäler zu bewundern. 1883 wurde in Friedenau die Kaisereiche zu Ehren Wilhelm I. gepflanzt, der Kaiser feierte in diesem Jahr die goldene Hochzeit mit seiner Frau Augusta sowie seinen 82. Geburtstag. In Friedrichsfelde steht die 25 Meter hohe Treskow-Platane. Die Ahornblättrige Platane befindet sich auf dem ehemaligen Schulhofgelände der im Jahr 2014 abgerissenen 15. Grundschule in der Alfred-Kowalke-Straße 29, gegenüber dem Tierpark Berlin. Ihr Alter wird auf 350 Jahre geschätzt.

Warum Friedrich der Große Seide anbauen wollte

Die Treskow-Platane gilt als landeskundliches Naturdenkmal. Sie war einst Bestandteil einer Platanenanpflanzung auf dem ehemaligen Rittergut von Johann Carl Sigismund von Treskow (1787–1846). Auf den Flächen des ehemaligen Rittergutes entstand nach dem Zweiten Weltkrieg der Tierpark.

Von landeskundlicher Bedeutung sind auch die Maulbeerbäume auf dem historischen Friedhof in Zehlendorf, die von den ambitionierten Plänen der Preußen erzählen, wirtschaftlich autark zu werden. Friedrich der Große wollte Seide als wirtschaftliches Exportgut für den Weltmarkt etablieren. Noch heute erinnern Straßennamen wie die Plantagenstraße in Steglitz daran, dass sich Seidenraupen an eigens für sie gepflanzten schmackhaften Weißen Maulbeerbäumen (Morus alba) laben konnten. Es scheint gemundet zu haben, denn in historischen Aufzeichnungen aus dem 18. und 19. Jahrhundert sind heimische Seidenprodukte der damaligen Zeit (Tapeten, Täschchen, Kleider und Hüte) verbürgt. Auf dem Althoffplatz in Steglitz ist tatsächlich noch ein Maulbeerbaum von damals zu finden. Er ist der einzige erhaltene Vertreter einer Maulbeerplantage des Fabrikanten Johann Adolf Heese, der von 1840 an in Steglitz große Plantagen anpflanzte und eine Seidenproduktion betrieb.

Der Blick in die Geschichte verleitet beim abendlichen Spaziergang unter Bäumen auch dazu, darüber nachzusinnen, was ein alter Baum zu erzählen hätte, würde er sprechen können. Rauscht er wehmütig mit den Blättern, wenn er sich daran erinnert, wie die Menschen gekleidet waren, als er jung war? Im 19. Jahrhundert gut behütet, mit frisch geputzten Schuhen beim Lustwandeln im Park. Oder kichert er in seinen Stamm hinein, wenn er sich an das 20. Jahrhundert und die Knickerbocker und die strengen Kostüme erinnert, bevor dann die Röcke minikurz und später wieder hippielang wurden? Heute sehen unsere Bäume auf keuchende Jogger in neonfarbenen Schuhen hinab und wundern sich womöglich über die kleinen Monitore in den Händen, auf denen ständig gewischt wird. Oder auch über die Stöpsel im Ohr. Würden sie schmunzeln oder würde es sie traurig machen, wüssten sie, dass Blätterrauschen und Vogelzwitschern inzwischen längst digital abrufbar sind?

Mode und Freizeitverhalten ändern sich, doch der Wunsch der Stadtbevölkerung nach Natur ist ungebrochen. Mit Themen wie diesen beschäftigt sich Professor Ingo Kowarik. Der Professor für Ökosystemkunde und Pflanzenökologie an der TU Berlin ist Experte für Stadtökologie. Er ist sozusagen die Stimme der Stadtnatur in Berlin in seiner Eigenschaft als Landesbeauftragter für Naturschutz und Landschaftspflege des Landes Berlin. Grundsätzlich sei die Hauptstadt mit mehr als 2500 öffentlichen Grün- und Erholungsanlagen schon ganz gut mit Bäumen und Parks ausgestattet, sagt er und nennt den Grunewald, Tiergarten oder Treptower Park als Beispiel. „Gleichwohl gibt es Verbesserungsbedarf, denn das Grün ist recht ungleichmäßig verteilt. Die meisten Bäume stehen am Stadtrand, in manchen Kiezen gibt es dagegen wenig unmittelbaren Zugang zum Grün im Wohnumfeld“, sagt Kowarik. „Deshalb belegt Berlin in den Rankings der grünen Großstädte Deutschlands keinen Spitzenplatz.“

Investition ins Grün der Stadt bringt Rendite

Grundsätzlich ist er nicht unzufrieden mit der Entwicklung der Stadtnatur. Er nennt den Gleisdreieck-Park als gelungenes Beispiel einer Grünfläche, die mit vielfältigen Funktionen das Leben im Herzen der Stadt angenehmer macht. Ingo Kowarik wünscht sich mehr davon. Ihm liegt am Herzen, dass Politik und Stadtgesellschaft sich klarmachen, dass die Investition ins Grün der Stadt eine starke Rendite bringt. Sie sorgt dafür, dass Berlin für die Zukunft gewappnet ist, denn es gilt, den Klimawandel zu gestalten. Der Blick auf unsere vergangenen Sommer dürfte jedem verdeutlichen, dass die Veränderung unseres Klimas kein Gespenst der Zukunft ist. Sondern beinharte Realität, wie die überflutete Straßen und Keller im vergangenen Jahr und dieser backofenheiße Sommer zeigen. „Wir werden mit Hitze und Starkwetterereignissen umgehen müssen“, so Kowarik. „Bäume bringen Abkühlung, und ihre Standorte können auch so gestaltet werden, dass sie mehr Wasser zurückhalten, wenn es ordentlich schüttet“, rät er. „Das entlastet die Kanalisation und ist Anpassung an den Klimawandel pur.“

Dabei ist nicht nur die Wissenschaft gefragt, die bereits mit innovativen Wassermanagementsystemen in Adlershof experimentiert. Oder die Bezirksverwaltungen, in deren Obhut die Straßenbäume liegen. Auch jeder einzelne von uns kann sich verantwortlich fühlen für die Bäume in der Stadt. Und ihnen ein paar Eimer Wasser spendieren. Vor allem dem Baumnachwuchs, denn bevor der etwas leisten kann und die Temperatur für uns auf natürlichem Weg drosseln kann, muss er gut anwachsen können.

Alle Teile der Stadtnatur-Serie