Berlin. In letzter Zeit bekommt Stephanie Rosenthal viele, viele Anrufe. Freunde und Bekannte, alle wollen wissen, wie es ihr so geht in Berlin. „Wie auf Kur!“, sagt sie. Jetzt lacht sie mit heller Stimme und kalkuliert mit ein, dass man weite Augen bekommt. Berlin, Kur? Oha, passt gar nicht, denken wir. „Doch“, sagt sie. Im Gegensatz zu London, wo sie die letzten 10 Jahre gelebt hat, sei Berlin komfortabel: weniger Verkehr, weniger Menschen, weniger urbane Verdichtung.
Wir gehen gerade die Treppen des Martin-Gropius-Baus hinab, vor uns das Berliner Abgeordnetenhaus, die Topographie des Terrors rechts von uns, an der Niederkirchnerstraße die Reste der Berliner Mauer. Der Potsdamer Platz ist um die Ecke.
Stephanie Rosenthal, 46, ist die neue Frau am Gropius-Bau, ihr Vorgänger, Gereon Sievernich, ist seit Februar im Ruhestand. Nach 17 Jahren bedeutet das eine Zäsur für das Kreuzberger Ausstellungshaus. Ein Generationenwechsel allemal, zumal Rosenthal einen anderen Ansatz verfolgt.
Sie kommt von der zeitgenössischen Kunst, ihr Faible sind Tanz und Performance. Natürlich will sie auch weiterhin ein weites Spektrum an Ausstellungen zeigen – acht bis zehn pro Jahr – neben den Kooperationen aber viel mehr produzieren und selbst kuratieren. Anders als Sievernich hat sie ein eigenes kuratorisches Team an ihrer Seite. 25 Mitarbeiter gehören zum Haus, eine Miniformation im Vergleich zur Größe der Institution, die keine eigene Kunstsammlung besitzt und vom Bund finanziert wird.
Eine Rückkehr: die Familie kommt aus Berlin
Sie führt uns erst einmal durch das leere Ausstellungshaus, hier hat sie die letzten Wochen viel Zeit verbracht. Es ist alles voller Licht, so großzügig – fast erhaben – haben wir das Gebäude mit der eleganten Treppe noch nie gesehen. Plötzlich leuchten vereinzelt wunderschöne tiefgrüne Keramiken an Türrahmen auf, die wir nie wahrgenommen haben. Momentan wird am Brandschutz nachgebessert, deshalb gibt es keine Exponate. Bis auf den Lichthof – dort wabern Leinwände in rot und orange, vermischen sich mit sphärischen Klängen. Sie gehören zur Soundinstallation „Hexadome“, bespielt wird sie von mehreren Künstlern. Brian Eno eröffnet an diesem Abend, Jonathan Meese kommt nächste Woche dran. Ein Projekt, das vor ihrer Ankunft aus London arrangiert wurde.
Rosenthal hat Wände weggenommen, Fenster geöffnet, von den verdunkelnden Folien befreit. Sie ist einfach durch die vielen Räume gegangen, im Erdgeschoss, in den ersten Stock hinauf, immer wieder, hat aus den Fenstern
hinausgeschaut. „In diesen lichten hellen Räumen kann ich denken und träumen“, erzählt sie uns. Ihre Vision für den Gropius-Bau hängt eng mit dem Gebäude selbst zusammen: Was will die Architektur? Wie ist der historische Kontext? „The place, the space“ nennt sie es, das Wechselspiel zwischen Gebäude und Raum, zwischen Raum und Besucher, den Körpern, die sich darin bewegen.
Manchmal wechselt sie vom Deutschen ins Englische, zehn Jahre London hinterlassen Spuren. Oft lassen sich Dinge auf Englisch pointierter und flotter formulieren. Ihr Ausstellungskonzept besteht aus einer Mischung von zeitgenössischer Kunst, Archäologie und Ethnologie. Ganz vorne stehen für sie aber die Künstler. Gemäß ihrem Motto „Walking in the Artist’s Mind“ sollen sie das Haus beleben für (politische) Auseinandersetzungen. Das Potenzial der Kunststadt Berlin sei längst noch nicht ausgeschöpft, findet sie. „Doch wir sind“, stellt sie schnell klar, „nicht plötzlich ein Haus nur für zeitgenössische Kunst“.
Der Lichthof wird zum Herzstück
Ihr Coup ist die Freilegung des imposanten Lichthofes. Er war bislang nur zugänglich bei einzelnen, großen Ausstellungen wie bei Ai Weiwei oder Olafur Eliasson. Wer kein Ticket für diese Sonderschauen hatte, kam da nicht hinein. Die schlanke Kunsthistorikerin möchte ihn zum „pulsierendes Herz“ machen – mit neuer Funktion. Von hier aus – wie durch ein Leitsystem – führen die Wege in die verschiedenen Ausstellungen. Damit „ein lebendiger Gesamtorganismus“ entsteht, soll es im kommenden Jahr ein Tagesticket für das gesamt Haus geben.
Es stimme, sie suche sich immer Institutionen, wo die Architektur eine eigene Sprache spricht. Angefangen hat sie am Haus der Kunst in München, einem wuchtigen Nazibau, die Hayward Gallery im Londoner Southbank Centre, ihr voriger Arbeitsplatz, ist ein „sehr demokratisches“ Betonmonster. Diesen Gebäuden gegenüber hat der „klassische“ Gropius-Bau weniger Reibungsfläche, denkt sie anfangs. Doch je mehr sie sich mit dem 1881 entstandenen Bau beschäftigt, umso mehr lernt sie. Warum diese riesigen Fenster, fragt sie sich. Ganz einfach, damals gab es kein elektrisches Licht – alles war im Kunstgewerbemuseum auf Tageslichtpräsentationen ausgelegt.
Ihr Umzug nach Berlin ist in gewisser Weise eine Rückkehr. Ihre Eltern kommen ursprünglich aus Berlin, ihre Mutter verbrachte ihre Jugend hier. Dann zog man nach Bayern. Onkel, Tante, Cousins und Cousinen blieben in Berlin. Ihr Bruder hat später in West-Berlin studiert, ihre Schwester blieb über 20 Jahre in der Stadt, deren Kinder sind Berliner. Die Familie kam oft zusammen. Von daher ist ihr Berlin vertraut, vor allem das Lebensgefühl zählt.
Nach Berlin umzuziehen ist anders, als nach London oder Sydney zu gehen, wo sie 2016 die Biennale leitete. „Die Familie ist da“, erzählt sie, „und meine Mutter liebt es, hierher zu kommen. Es ist einfach ihre Stadt.“ Stephanie Rosenthal ist aber nicht den Familienspuren Richtung Westen gefolgt, ihre Wohnung befindet sich unweit des trubeligen Rosenthaler Platzes. Ein Stück sehr urbane Mitte also.
Der Gropius-Bau wurde im Krieg stark zerstört
Wir stehen nun direkt in der Freiluftausstellung der Topographie des Terrors, gehen dann an den Mauer-Resten vorbei Richtung Checkpoint Charlie und zurück bis zur Stresemannstraße. Die neue Chefin möchte uns zeigen, wie geschichtsträchtig das Areal ist. Auf dem Gelände des Dokumentationszentrums stand ursprünglich die Kunstgewerbeschule als Lehranstalt direkt neben dem Kunstgewerbemuseum, dem heutigen Gropius-Bau. Sie weist auf ein zementiertes Fenster links im Erdgeschoss an der Ostseite des Gropius-Baus. „Genau da“, weiß sie, „war der Verbindungsgang zur Kunstgewerbeschule. Die Nazis haben es zugebaut.“ Die Gestapo zog im Mai 1933 mit dem Hauptquartier dort ein. Neben der Gestapo „residierten“ an der ehemaligen Prinz-Albrecht-Straße auch das Reichssicherungshauptamt und Himmlers SS. Auch die jüngere Geschichte ist natürlich präsent: an der Niederkirchnerstraße verlief die Grenze.
Im Krieg, erzählt Rosenthal, sei der Gropius-Bau stark zerstört worden, dank der Intervention seines Großneffen Walter Gropius wurde es nicht abgerissen. 1966 stellte man das Gebäude unter Denkmalschutz. 1968 begann der Wiederaufbau, da die Berliner Mauer direkt vor dem Hauptportal verlief, verlegte man den Zugang auf die Rückseite. Ihre erste selbst kuratierte Ausstellung „Crash“ mit Lee Bul ab September wird das Thema aufgreifen. Die koreanische Künstlerin ist stark beeinflusst von der Teilung ihres Heimatlandes, Diktatur, der Übergang zur Demokratie – all diese Themen spielen da mit hinein.
Neues Konzept, neuer Ansatz und kein Direktorenbüro
Wir gehen die an diesem Nachmittag recht wenig befahrene Niederkirchnerstraße entlang. Die Neu-Berlinerin macht eine ausladende Geste mit dem rechten Arm. „Überall noch Platz“, findet sie, „wenn man aus London kommt, wo alles übervoll ist, denkt man sich, hier hat man richtig viel Platz! Unglaublich diese weite Sicht.“ Neulich hat sie mit jemanden gesprochen, er war derselben Meinung, dass diese Berliner Weite viel Raum im Kopf gibt, irgendwie frei macht. Manch ein Berliner wird das anders sehen. Sie lacht wieder, sehr optimistisch, wie häufig bei diesem Spaziergang.
Jetzt muss sie noch fotografiert werden. Unkompliziert wie sie ist, kriecht sie durch die Absperrung der Mauerreste, um sich vor einem Loch im Beton zu positionieren. Sie grinst, Hauptsache es gibt keinen Ärger mit dem Direktor
Andreas Nachama, dem Chef der Topographie des Terrors. Die Betonreste begrenzen „sein“ Dokumentationszentrum. Wird wohl gut gehen, sie hat bereits Nachbarschaftskontakte geknüpft.
Viel unterwegs war sie die letzten Wochen, hat Kollegen der anderen Museen und Institutionen besucht, um Strukturen zu verstehen, überhaupt das System der Kulturstadt Berlin, was bekanntlich nicht einfach ist. Das bekam ja auch ihr ehemaliger Kollege und Chef Chris Dercon am eigenen Leib zu spüren. Der Kunstmann aus London hat die Volksbühne übernommen, die Kritik riss nicht ab, am vergangenen Freitag schmiss er nun hin. Anders als Dercon hatte sie eine „wunderschöne Übergabe“ durch Gereon Sievernich, der ihr „gentleman-like“ das Haus öffnete und ihr vieles näher brachte.
Sie fühlt sich willkommen, das Haus ist bestens aufgestellt: Nun dürfen Veränderungen kommen. Klar macht sie Dinge anders, sie ist ein anderer Typ. Das Direktionsbüro mit dem Vorzimmer hat sie gar nicht erst bezogen, sie sitzt lieber mit ihrem Team locker zusammen, Ideen entstehen gemeinsam. Hierarchien mag sie nicht. Und: „Wenn man aus einem großen Tanker wie dem Kulturzentrum Southbank kommt, ist alles unkompliziert hier“, sagt sie.
Das Alt und Jung des gut gemischten Berliner Publikums schätzt sie – es ist „kritisch, offen und interessiert“. Eigentlich ein Wunschpublikum für Zeitgenössisches, findet sie. In London gibt es im Zentrum der Stadt ein anderes Klientel, meint sie. Das Zentrum sei sehr teuer, für einige Besucher finanziell nicht machbar. „Berlin ist demokratischer und zugänglicher“, findet sie.
Der Sohn spricht Deutsch, Englisch - und ein bisschen Hindi
Wir gehen zurück in den Gropius-Bau, im Pressebüro gibt es Kaffee, wer mag, bekommt ein Stückchen Kuchen. Sie unterbricht kurz unser Gespräch, sie telefoniert mit ihrer Schwester, will wissen, ob das knapp dreijährige Söhnchen „happy“ ist. Und wie es nach der Kita weitergeht mit ihm. Vielleicht holt er die Mama ja von der Arbeit ab. „Hallo, hörst du mich?“ Normalerweise wird der Kleine von zwei Babysittern betreut. Wenn es mal nicht klappt, ist sie dran. Kein Problem, sie kann schließlich abends arbeiten.
Ihr Sohn spricht Deutsch, Englisch „und ein kleines bisschen Hindi“, sie deutet mit Daumen und Zeigefinger das Maß von etwa einem Zentimeter an. „Mit seinen Großeltern!“, sagt sie zur Erklärung. Deutsch wird nun seine erste Sprache, mit seinem Vater spricht er weiterhin Englisch – und Hindi. Sie mag es, wenn sie mitten im Satz in die andere Sprache kippt. Jede Sprache hat ihr eigenes Gefühl. Ob der Kleine den Umzug gut verkraftet hat? Für ihn sei Berlin klasse, es gibt viele Spielplätze und vor dem Haus einen Sandkasten. Und es ist natürlich schön, nah an der Familie zu sein. Morgens, erzählt sie, sagt er manchmal, er gehe jetzt in den Gropius-Bau. Abends fragt er, wie ihre Arbeit war. „How was work? What did you do at work?“ Manchmal ist sie erstaunt, was er mit seinen knapp drei Jahren so wissen will.
Zur Person
Leben Stephanie Rosenthal, geboren 1971 in München, ist seit dem 1. Februar Direktorin des Martin-Gropius-Baus. Studiert hat sie Kunstgeschichte in München, in Köln promovierte sie. Von 2007 bis 2017 war sie Chefkuratorin an der Hayward Gallery im Süden Londons, dort konnte sie mit vielen internationalen Künstlern arbeiten. 2016 leitete sie die 20. Ausgabe der Sydney Biennale mit mehr als 70 internationalen Künstlern. Zuvor arbeitete sie als Kuratorin am Haus der Kunst in München. Dort kuratierte sie Ausstellungen wie „Stories – Erzählstrukturen in der zeitgenössischen Kunst“ oder Paul McCarthys „LaLa Land Parodie Paradies“. Sie kennt Berlin gut, die Familie hat Wurzeln in der Stadt. Ihre Wohnung ist in Mitte.
Eröffnung „Covered in Time and History“ mit Filmen von Ana Mendieta ist ihre erste Eröffnung in Berlin. Sie hat schon in London mit dem Werk der kubanisch-amerikanischen Künstlerin gearbeitet. Ab 20. April zu sehen.
Spaziergang: Wir treffen uns im Martin-Gropius-Bau, um uns das Ausstellungshaus einmal im leeren Zustand anzuschauen. Dann geht es in der Niederkirchnerstraße weiter Richtung Checkpoint Charlie und zurück über die Stresemann-straße. In der Niederkirchnerstraße schauen wir uns die Topographie des Terrors an.
Mehr Licht und mehr Künstler im Gropius-Bau
Neue Direktorin des Gropius-Baus holt Künstler ins Haus