Wohnzimmer mit Blick auf den Todesstreifen. Als Jugendliche wohnte Suzanne Schwarz im „Weinhaus Huth“.

Es war eine Frage der Lebensqualität. Dort, wo in Berlin der Todesstreifen am breitesten war, bezogen Suzanne Schwarz und ihre Mutter 1967 eine neue Wohnung. „Zuvor hatten wir im Souterrain und ohne Zentralheizung gelebt“, sagt sie. „Wir empfanden das hier als Aufstieg.“

Doch über dem einst verkehrsreichsten Platz Europas, dem Potsdamer Platz lag da sechs Jahre nach Mauerbau bereits eine Grabesstille, die zwar Elstern, Raben und Turmfalken anzog, allerdings nicht mehr wie einst Kaffeehausbesucher und Flaneure. Bis 1973 lebten Mutter und Tochter ganz oben unter dem Dach des Weinhauses Huth. Wenn sie aus dem Fenster schauten, blickten sie auf die Mauer. „Abends konnte es ganz schön gruselig sein“, erinnert sich die 63-Jährige heute.

Der Rest des Areals weitgehend zerstört

Sie bewohnte ein Gebäude, das inzwischen trauriges Renommee erlangt hatte. 1912 war das Haus von Weinhändler Christian Huth in Auftrag gegeben worden, unter anderem als Flaschenlager. Das erforderte einen belastbaren Bau mit Etagen, die einiges aushalten würden. Es heißt, dass das Weinhaus den Zweiten Weltkrieg nur dank seiner Stahlkonstruktion überstand, während der Rest des Areals weitgehend zerstört oder unbewohnbar wurde.

Im Volksmund galt es nun als „das letzte Haus am Potsdamer Platz“ – was nicht ganz stimmte. So befanden sich dort auch Überreste des Grand Hotels Esplanade, in dem Szenen für die Filme „Cabaret“ mit Liza Minnelli und Wim Wenders’ melancholische Berlin-Hommage „Der Himmel über Berlin“ entstehen sollten.

„Wir wohnten in diesem allein stehenden Haus. 20 Meter vor der Haustür stand die Mauer“, sagt Schwarz. „Seitlich war eine Aussichtsplattform, auf der Touristen zur anderen Seite hinüberguckten. Zudem gab es eine Souvenirbude. Abends da als junges Mädchen von Verabredungen oder Feiern heimzukommen, war ziemlich unheimlich.“

Der Potsdamer Platz im Juli 1988 |
Der Potsdamer Platz im Juli 1988 | © picture alliance / akg-images | Henning Langenheim / akg-images

Einmal schneiderte Mutter Schwarz ihrem Kind einige Kleider. Zur Erinnerung machten sie rund ums Haus Fotos einer aparten, keck dreischauenden Suzanne in neuer Garderobe. Den Hintergrund bildeten halbtote Büsche, Unkraut und Metallteile, die aus dem Boden herausragten wie Skelettknochen. „Schulkameraden, die mich daheim besuchten, fanden das alles immer seltsam“, sagt Schwarz.

Die Mauer war lange Teil ihres Lebens gewesen. Den Fall aber verfolgte sie vor dem Fernseher. Ihr Lebensgefährte hatte ihr unter Freudentränen die Tür geöffnet, als sie abends von der Arbeit heimkam. Wenige Tage danach wurde auf dem Potsdamer Platz ein erstes Betonsegment aus dem Mauerverlauf gerissen. Nach getaner Arbeit reichten West-Polizisten ihren Ost-Kollegen auf den Trümmern fotogen die Hände, sogar Bundespräsident Richard von Weizsäcker war da, als erstmals wieder ein Übergang die Stadthälften miteinander verband. „Ich war auch dabei“, erinnert sich Suzanne Schwarz. „Ein unvergesslicher Abend. Es endete damit, dass ich um Mitternacht den ganzen ehemaligen Todesstreifen entlang lief, so weit ich durfte.“

Rechts die Arkaden, gegenüber das Grand Hyatt

Inzwischen muss man vor ihrem ehemaligen Haus aufpassen, von den shoppenden Passanten und staunenden Touristen nicht fortgerissen zu werden. Rechts des Gebäudes sind die Potsdamer Platz Arkaden entstanden, gegenüber sind das „Grand Hyatt“ und ein Hinterausgang, den Filmstars während der Berlinale nehmen, wenn sie es nach Pressekonferenzen eilig haben.

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    Aber es gibt noch Spuren der Grenze rund um das Areal. Am Leipziger Platz etwa markiert mitten auf dem Rasen eine Steinreihe den Mauerverlauf. Auf sogenannte Mehrfach-Bogenlampen zur Ausleuchtung des Grenzgebiet-Vorfeldes stößt man nahe Abgeordnetenhaus und Bundesratsgebäude. Die Mauerteile auf dem Potsdamer Platz allerdings wurden erst nachträglich wieder aufgestellt. An der Stresemannstraße immerhin machten Architekten Mauersegmente an ihrem Originalstandort zum Teil des dortigen Bundesumweltministeriums. Ein imposanter Anblick.

    Zum 90. Geburtstag ihrer Mutter kehrte sie zurück

    2009 kehrte Suzanne Schwarz, inzwischen Beamtin in der Senatsschulverwaltung, in ihr altes Domizil zurück. Das Gebäude war ab 1994 restauriert worden, im Erdgeschoss empfängt das kleinste „Lutter & Wegner“ der Stadt, in den oberen Stockwerken sitzt seit 1999 die Kunstsammlung „Daimler Contemporary“. „Ich schrieb an die zuständige Stiftung, dass ich meiner Mutter zum 90. Geburtstag eine Übernachtung im Haus schenken möchte“, sagt sie. „Doch wo unsere Wohnung war, ist jetzt eine durchgehende Etage mit Konferenzräumen und Unterkünften, die Gästen vorbehalten sind. Wenigstens bekamen wir eine Führung durch die Räume.“

    Nachdem die Mutter 2013 verstarb, setzt sich Suzanne Schwarz dieser Tage ab und an gern allein in den Coffee-Shop neben ihrer einstigen Haustür und blickt vom Fensterplatz bei einer Tasse Kaffee hinaus auf den Trubel. „Und dann denke ich immer: Nicht zu fassen, hier hast du einmal gewohnt.“

    Der "Zirkeltag"

    Der 5. Februar 2018 ist „Zirkeltag“. Es ist der Zeitpunkt, an dem die Berliner Mauer genauso lange nicht mehr steht, wie sie von 1961 bis 1989 die Stadt teilte: 28 Jahre, 2 Monate und 27 Tage.

    Die Berliner Morgenpost und der Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) haben Erinnerungen von Berliner Zeitzeugen an jene Periode zusammengetragen. Die Berliner Morgenpost veröffentlicht dazu am Sonntag eine Sonderbeilage. Die RBB-Abendschau berichtet bis zum 5. Februar jeweils ab 19.30 Uhr täglich von damals, ebenfalls in zahlreichen Interviews. Am Zirkeltag selbst stehen die Ereignisse im Mittelpunkt des gesamten RBB-Programms in TV, Radio und online.

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