Wolfgang Schäuble im Interview über das Berliner Lebensgefühl und Probleme heute – und warum er nicht Regierender Bürgermeister wurde.

Seine Herkunft aus dem Schwarzwald kann er bis heute nicht verleugnen, wenn er spricht. Aber wenige haben mehr für Berlin getan als er: Wolfgang Schäuble, 81, Abgeordneter, Ex-CDU-Chef, Ex-Minister, Ex-Bundestagspräsident. Und der Mann, der mit einer kurzen emotionalen Rede 1991 im Deutschen Bundestag die Mehrheit für Berlin als Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands holte.

Berliner Morgenpost: Herr Schäuble, die Berliner Morgenpost feiert ihren 125. Geburtstag in der Stadt Berlin, die seit 1991 wieder Sitz der deutschen Regierung ist. Hat sich Berlin zu der Hauptstadt entwickelt, die Sie sich bei Ihrer historischen Rede pro Berlin im Bonner Wasserwerk gewünscht haben?

Wolfgang Schäuble: Seit 1991 hat sich die Welt völlig anders entwickelt, als wir damals ahnen konnten. Ich bin stolz darauf, Ehrenbürger dieser Stadt zu sein, auch wenn Berlin es mir wie allen anderen hier Lebenden nicht immer ganz einfach macht. Berlin hat seine Probleme, aber viele davon sind strukturell und nur gemeinsam zu bewerkstelligen. Daher appelliere ich an die Bürger und die Verantwortlichen, mehr zu tun.

Es heißt, Ihre leidenschaftliche Rede hat die Mehrheit gedreht. Glauben Sie das auch?

Ich höre das gerne und mit dieser Begründung bin ich auch Ehrenbürger geworden. Ich erinnere mich daran, wie ich während der knapp zehnminütigen Rede spürte, wie ein Großteil der Abgeordneten reagierte. Einer meiner Schlüsselsätze, man kann es auch mein Mantra nennen, war (und ist): „Ich bin nicht Abgeordneter einer Gruppe, sondern des ganzen deutschen Volkes.“ Das war der Wendepunkt.

Als ich nach der Rede wieder zur Regierungsbank kam, saß neben mir Klaus Kinkel, damals Bundesjustizminister. Ich sagte zu ihm: „Wenn wir jetzt abstimmen würden, hätte Berlin die Mehrheit.“ Und dann kam Willy Brandt auf mich zu und drückte mir die Hand. Er hatte einen Sinn für symbolische Gesten, und ich wusste genau, was er vorhatte, als er sich von seinem Abgeordnetenplatz erhob. Auch wenn die Debatte dann noch einige Stunden dauerte, hat die Rede ihre Wirkung nicht verfehlt.

Wie waren die Bonner eigentlich nach dieser Entscheidung auf Sie zu sprechen?

In der Bundestagsfraktion war es weniger schwierig als in der Stadt. An den Brücken hingen Transparente mit der Aufschrift: „Stoppt Schäubles Wahnsinn“. Ich bin eine Zeit lang gar nicht in Bonn aufgetreten und selbst Jahre später, bei einem Besuch der Universität, brauchte es ein gewisses Polizeiaufgebot.

Ist Ihr Versprechen aufgegangen, dass durch die Verlegung der Regierung auch die Teilung zwischen der alten Bundesrepublik und der ehemaligen DDR überwunden werden konnte?

Wir wissen, dass wir immer noch ein Stück weit an den Folgen der Teilung leiden, sie ist in der Biografie unseres Volkes sehr prägend. Das habe ich so nicht erwartet. Aber man stelle sich einmal vor, Bonn wäre heute noch die Hauptstadt. Berlin mit seiner einzigartigen Geschichte und geografischen Lage ist ganz folgerichtig die bundesdeutsche Hauptstadt in einem Europa, das auf Frieden und Freiheit gründet! Die Hauptstadtfrage allein erklärt die Lage, die wir jetzt haben, aber nicht in Gänze. Die Umbrüche im Osten waren gewaltig. Aber auch in Westdeutschland hat man damals wohl nicht absehen können und einsehen wollen, dass die Einheit auch dort Anstrengungen verlangt. Die Bonn-Berlin-Debatte war dahingehend auch symptomatisch.

Was ist das Besondere an der Hauptstadt Berlin, verglichen mit anderen Hauptstädten in Europa?

Berlin ist eine lebendige Stadt, in der alle Probleme, aber auch das Faszinierende moderner Großstädte sichtbar wird. Paris und London sind natürlich noch einmal andere Weltmetropolen, aber die rasante Veränderung in der modernen Gesellschaft und die ihr daraus folgende Zerrissenheit sind in Berlin ebenfalls zu beobachten. Was mich aber zugleich immer wieder anrührt, ist die Tatsache, dass in allen Umfragen unter jungen Israelis Berlin mit Abstand als die attraktivste Stadt genannt wird. Das ist ein großer Vorzug auch für unser Land, dass Berlin bei allen Problemen, die es hat, so anziehend wirkt. Dazu ist Berlin mit seinen Wäldern und Gewässern sehr attraktiv.

Haben Sie nie mit dem Gedanken gespielt, sich im herrlichen Grunewald oder im grünen Dahlem dauerhaft niederzulassen? Badener – und vor allem Schwaben – gibt es in Berlin mehr als genug.

Soweit ich weiß, findet man meine Landsleute aber eher im Prenzlauer Berg (lacht). Ich bin von meinem Wesen her ein Kleinstädter. Daher schätze ich die kleinstädtische Struktur der Berliner Kieze, eingebettet in die Metropole mit ihrem vielfältigen kulturellen Angebot, gerade für jemanden wie mich, der an klassischer Musik oder Theater interessiert ist. Auf der anderen Seite liebe ich meine Heimat, die Ortenau, den Schwarzwald, die Lage am Rhein mit der Nähe zu Frankreich. Beides zu haben, ist ein großes Glück.

Berlin ist arm, aber sexy, hat Klaus Wowereit mal gesagt. Berlin ist zwar in den vergangenen Jahren wohlhabender geworden, hat aber immer noch proportional viel mehr staatliche Leistungsempfänger als andere Städte. Was läuft da falsch?

Das war ein schöner Satz von Wowereit. Ich will mich gar nicht zu sehr in die Berliner Politik einmischen, das steht einem Ehrenbürger nicht zu. Die Verwaltung ist etwas kompliziert, und die Regierung hat mit ihrer Bezirksverfassung eine schwierige Struktur, denn das Verhältnis von Berliner Landesregierung zu den Bezirken ist kompliziert und auch nicht leicht zu ändern. Ich wünsche Kai Wegner, der das ja jetzt mit einer Klausur angehen will, viel Erfolg!

Ist Kreuzberg nicht Deutschland? So sieht es jedenfalls CDU-Chef Friedrich Merz …

Er wollte wohl sagen, dass Kreuzberg wie Abensberg, wo ja die Gillamoos stattfindet, zu Deutschland gehören. Aber wenn man nicht einmal mehr im bayerischen Bierzelt polemisieren kann, mache ich mir um den demokratischen Diskurs allmählich Sorgen.

Bayern will für Berlin nicht mehr zahlen, sagt der bayerische Ministerpräsident …

Das sind Formulierungen im Landtagswahlkampf. Der Länderfinanzausgleich ist nicht unproblematisch, aber schwer zu verändern. In einer bundesstaatlichen Ordnung gilt allerdings, dass stärkere Länder mit Schwächeren solidarisch sind. In Baden-Württemberg gab es diese Stimmen auch, aber dennoch halte ich diese Position nur begrenzt für richtig.

Berliner Bürgermeister, wäre das nicht auch was für Sie gewesen? Mit Reuter, Brandt und von Weizsäcker wären Sie in illustrer Gesellschaft gewesen …

Ja, ich habe auch eine Sekunde lang gezuckt, als ich gefragt wurde, ob ich dazu bereit wäre. Aber ich war immer gern in der Bundespolitik, und in der Zeit, in der Berlin geteilt war, war die Rolle des Berliner Bürgermeisters von Fritz Reuter bis Richard von Weizsäcker ohnehin eine völlig andere.

Sie engagieren sich für die Berliner Kultur, im Kuratorium der Freunde der Philharmonie und in der Stiftung Denkmalschutz Berlin. Hat die Kultur in Berlin den Stellenwert, den sie braucht, wo sehen Sie Defizite?

Das hat sie meinem Eindruck nach sowohl unter Kultursenator Joe Chialo als auch unter seinem Vorgänger Klaus Lederer. Natürlich kann Berlin nicht nur Kulturpolitik für die klassische Hochkultur machen. Kunst ist vielfältig, und es ist schön, so viele Opernhäuser und erstklassige Orchester zu haben. Es gibt auch wunderbare Sprechtheater von der Schaubühne bis zum Deutschen Theater und tolle Projekte wie das Ramba Zamba, wo Behinderte und Nichtbehinderte gemeinsam spielen. Also, Berlin ist kulturell fantastisch und besonders für junge Menschen ein guter Platz, auch abseits der Technoclubs.

Was nervt Sie an Berlin?

Mich nervt, dass alles so schwerfällig ist und man so schwer zu Entscheidungen kommt. Das Problem hat Berlin nicht exklusiv. Aber es gibt hier ein besonders großes Problem mit Wohnungen. Und wenn Flächen zur Verfügung stehen, die man ausgewogen bebauen kann – wie beim Tempelhofer Feld –, stellt sich gelegentlich doch die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Plebisziten. Dabei muss in Berlin und im Umland doch ein Angebot mit bezahlbarem Wohnraum geschaffen werden. Für die allermeisten Menschen, die suchen, ist es nahezu unmöglich, für ihren Bedarf derzeit Wohnraum zu finden. Daneben sehe ich auch die Schwierigkeit, Mobilität so zu organisieren, dass allen Bedürfnissen hinreichend Rechnung getragen werden kann. Beides birgt sozialen Sprengstoff.

Es gibt Neuberliner aus dem Ausland, die hier nach ihren eigenen Gesetzen leben wollen und weder deutsche Polizei noch deutsche Gerichtsbarkeit akzeptieren. Wie muss Berlin mit diesen neuen Einwohnern umgehen?

Da geht es Berlin wie anderen Städten. Wer in Deutschland lebt, neu oder nicht, zugezogen oder schon immer hier lebend, für den gilt die deutsche Rechtsordnung. Die meisten Grundrechte haben auch alle Menschen, die in Deutschland leben und nicht nur die Deutschen. Aber sie alle müssen die Rechtsordnung respektieren, und der Staat hat die Pflicht, diese Ordnung durchzusetzen. Zugleich dürfen wir nicht müde werden, Räume zu schaffen und zu beleben, die Austausch ermöglichen. Aus diesem Ansporn heraus habe ich die Islamkonferenz ins Leben gerufen.

Gibt es das, diese Berliner Unfähigkeit? Oder ist das eine Geschichte der Missgunst von denjenigen, die es nicht nach Berlin geschafft haben?

Als ich noch als Finanzminister viel unterwegs war, hatte ich schon Mühe zu erklären, welche Mühe wir haben, für unsere Hauptstadt einen Flughafen zu bauen. Aber das ist nicht nur ein Problem Berlins, das ist generell so. Wir sind schwerfällig, wollen perfekt sein und sind am Ende dysfunktional.

Was wünscht sich der 119. Ehrenbürger Berlinsam meisten für diese Stadt?

Ich wünsche Berlin, dass es sich die Offenheit und die Attraktivität für Menschen aus aller Welt bewahrt und es gleichzeitig schafft, gerade in dieser Vielfalt den notwendigen Zusammenhalt der Gesellschaft hinzukriegen, den man braucht, um eine freiheitliche Ordnung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ohne Extremismus und Populismus stabil zu gestalten.

Und was wünschen Sie der Berliner Morgenpost?

Ich wünsche ihr, dass es die Berliner Morgenpost in ihrer wichtigen Rolle für die Hauptstadt, aber auch für unser ganzes Land auch in 125 Jahren noch gibt. Wir brauchen für eine freiheitliche Demokratie dringend eine leistungsstarke, seriöse Qualitätspresse.