Eine Allianz aus Neuverlegern, Alliierten und Politikern wollte die Neuauflage der „Berliner Morgenpost“ verhindern.
Am 20. September 1958 tütete Heinz Ullstein eine Sonderausgabe der „Berliner Morgenpost“ zum 60. Jahrestag der Zeitung ein. Adressat war Axel Springer in Hamburg. Im Begleitbrief wies Ullstein den Verlegerkollegen auf eine Besonderheit der „Morgenpost“ hin: Der Wert des Blattes liege für den Verlag in der Treue seiner Leser. Unter diesen Lesern gebe es solche, „die dem Blatt beinahe eine Zuneigung entgegenbringen wie einem nahestehenden Familienmitglied“. Für diese Menschen wäre ein Leben ohne „Morgenpost“ fast unvorstellbar. Springer antwortete umgehend auf die Zusendung. „Ich bin erinnert worden an meine frühe Liebe zu dieser Zeitung, die ich empfand, als ich ein ganz junger Mann war“, schrieb er am 23. September.
Erleichterung und Aufmunterung sprechen aus diesen Zeilen. Erleichterung bei Heinz Ullstein, denn rückblickend klaffte in den ersten 60 Jahren „Morgenpost“ eine Lücke. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die Zeitung zwischen 1945 und 1952 eine siebenjährige Pause. Der Beliebtheit schien das glücklicherweise nicht geschadet zu haben. Seit dem Neustart am 26. September 1952 war die Auflage bis zum Jubiläum 1958 von 135.396 verkauften Exemplaren auf 220.052 gestiegen. Damit hinkte die „Morgenpost“ allerdings der Rekordauflage in der Weimarer Republik mit 623.010 Exemplaren wochentags (1930) noch weit hinterher. Damals war das am 20. September 1898 gegründete Blatt die auflagenstärkste Tageszeitung in Deutschland. Die Aufmunterung von Axel Springer an die Kollegen in Berlin wiederum kam nicht von ungefähr, denn lange war nicht klar, ob es nach dem Krieg überhaupt noch einmal eine „Berliner Morgenpost“ geben würde.
Die Unwägbarkeit begann 1933 mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten, die den liberalen Ullstein-Verlag hassten und sofort Druck ausübten. Sie verhaftete kurzzeitig Mitglieder der Verlegerfamilie oder gingen in Berlin von Haus zu Haus und nötigten die Abonnenten der „Berliner Morgenpost“ zur Kündigung der Zeitung. Ein Jahr später veräußerte die Familie mit jüdischen Wurzeln ihr Unternehmen unter Zwang und unter Wert, 1937 erfolgte durch die Nazis die Umbenennung in Deutscher Verlag, der weiterhin die „Morgenpost“ herausgab – bis zum 25. April 1945.

Die Amerikaner hatten den Verlag beschlagnahmt
Das Kriegsende wenige Tage später erlebten die Ullsteins weltweit verstreut im Exil – bis auf Heinz Ullstein, der geschützt durch seine „arische“ Ehefrau die NS-Diktatur als Zwangsarbeiter in Berlin überstanden hatte. Als einer der Ersten aus der Familie nahm er das Mediengeschäft wieder auf und brachte im November 1945 die Zeitung „sie“ heraus. Gedruckt und vertrieben wurde sie vom einstigen Verlag seiner Familie, der immer noch wie zu Nazi-Zeiten Deutscher Verlag hieß, nun aber in der Druckerei in Tempelhof residierte, nachdem der legendäre Verlagssitz in der Kochstraße beim Bombenangriff am 3. Februar 1945 zerstört worden war.
Auch die Besitzverhältnisse waren andere. Die Amerikaner hatten den Verlag beschlagnahmt, Treuhänder eingesetzt und untersagt, die Zeitungen weiterhin unter ihrem angestammten Namen zu veröffentlichen. Dazu gehörte auch die „Berliner Morgenpost“. Ersatzweise kooperierte der Deutsche Verlag mit den beiden Herausgebern des 1949 gegründeten „Berliner Anzeigers“. Für eine Reduzierung der Kosten um ein Viertel wollte man sich mit 51 Prozent am Blatt beteiligen.
Im Grunde war dies eine Vorbereitung auf die Rückkehr nach Berlin. Inzwischen hatte sich die Familie darauf geeinigt, den alten Verlag zurückzufordern. Bereits aus dem September 1945 sind entsprechende Anträge überliefert, zunächst informell. 1950 lag dann der offizielle Antrag der Ullsteins beim Wiedergutmachungsamt vor. Zuversicht gab ihnen der einvernehmliche Standpunkt, dass ein in der NS-Zeit unter Druck getätigter Verkauf Unrecht war. Rudolf Ullstein, der letzte noch lebende Vertreter der zweiten Gründergeneration, wurde von seinen Neffen und anderen Familienmitgliedern sowie Vertrauten unterstützt. Restitution ist das eine, die Wiederaufnahme der Geschäfte das andere.
Weil die Nazis den Ullsteins beim Gang ins Exil den viel zu niedrigen Erlös für ihren Verlag auch noch abgenommen hatten und die Geprellten im Exil keine nennenswerten Mittel ansparen konnten, benötigten die Ullsteins für den Neustart Unterstützung. Eine französischen Verlagsgruppe war bereit, einen Kredit von über vier Millionen DM zu gewähren. Dafür sollte sie nach erfolgter Restitution 20 Prozent an der Firma übernehmen.
In West-Berlin hatte sich eine Allianz gebildet
Zum Leidwesen der Ullsteins hatte sich jedoch in West-Berlin eine Allianz gebildet, um die Rückgabe des Verlages zu verhindern. Die Amerikaner wollten die Druckerei Tempelhof weiter für ihre Publikationen zur Umerziehung (Reeducation) nutzen. Auf den Maschinen wurden zudem die Zeitungen der nach 1945 in Berlin neu entstandenen Verlage gedruckt, die kein Interesse hatte, dass der frühere Platzhirsch zurückkehren und ihnen Leser und Inserenten wegnehmen würde. Sie behaupteten daher, der Berliner Zeitungsmarkt sei mit ihrer Gründung gesättigt.
Ohne Skrupel streuten die Neu-Verleger über ihre Zeitungen Gerüchte über „geheime Finanzquellen“ der Ullsteins, mitunter schlichen sich antisemitische Töne ein. Die Amerikaner standen den Neuverlegern bei, so untersagte ihr Presseoffizier Shepard Stone 1951 die 51-prozentige Beteiligung am „Berliner Anzeiger“. Offenbar sollten die Ullsteins nicht gleich nach einer möglichen Restitution automatisch die Mehrheit an einer eigenen Tageszeitung besitzen. Der Regierende Bürgermeister Ernst Reuter ließ das Geschehen anfangs laufen. Er versteckte sich hinter dem Argument, er müsse die Interessen der Berliner Wirtschaft im Blick haben und wolle keinen Zeitungskrieg.
Nach zwei Jahren harter Auseinandersetzung vor Gericht fällte die 42. Wiedergutmachungskammer beim Landgericht Berlin am 3. Januar 1952 ihr Urteil zugunsten der Ullsteins, die umgehend den Namen Deutscher Verlag gegen den alten austauschten. Doch zu welchem Preis? Eine Voraussetzung für die Zustimmung zur Restitution durch das Land Berlin war die Übernahme der Schulden des Deutschen Verlages, die bis dahin die öffentliche Hand zu schultern hatten: zuletzt Monat für Monat eine sechsstellige Summe. Auch mussten die Ullsteins als Kompensation auf ihre früheren Firmenimmobilien in der Kochstraße verzichten.
Ein unverhohlen unmoralisches Angebot
Und die Konkurrenz ließ keine Ruhe. Die Verleger von „Berliner Anzeiger“, „Der Tag“, „Tagesspiegel“ und „Der Abend“ traten an die Ullsteins mit Kaufabsichten heran, um so die Herausgabe der „Morgenpost“ zu verhindern. Das unverhohlen unmoralische Angebot: 50-prozentige Beteiligung der vier Verlage am Druckhaus Tempelhof, gleichberechtigter Sitz im Vorstand, Garantie ihrer Druckverträge für fünf Jahre sowie die Zusicherung des Ullstein-Verlags, bis zu einem Stichtag keine eigene Tageszeitung mehr herauszugeben – Vorschlag dafür: bis zur deutschen Wiedervereinigung. Um das zu forcieren, kündigte die Leitung des „Berliner Anzeigers“ die bestehenden Druck-, Anzeigen- und Vertriebsverträge. Das Argument: Die Ullsteins wollten keine neue Zeitung gründen, sondern sie schlucken und zur „Morgenpost“ umgestalten. Das war tatsächlich der Plan der Ullsteins, nachdem sie doch eine, wenn auch geringfügige, Beteiligung erreichen konnten.
Karl Ullstein versuchte, die Situation zu entschärfen. Dabei musste er sich drei Argumente der Konkurrenz gegen eine Wiederherausgabe der „Berliner Morgenpost“ anhören: Die schwierige Versorgung mit Papier ließe eine weitere Zeitung nicht zu. Eine neue Zeitung würde sie in wirtschaftliche Schieflage bringen. Drittens: Ein notwendiger Lizenzantrag bei den Alliierten sei nur deutschen Staatsbürgern erlaubt. Die Ullsteins seien aber emigrationsbedingt Ausländer geworden. Karl Ullstein hielt dagegen. Man sei trotz anderer Staatsbürgerschaft politisch völlig integer, und niemand könne ernsthaft behaupten, eine neue „Berliner Morgenpost“ würde totalitäre Ziele verfolgen.
Der Regierende Bürgermeister schwenkte auf den Kurs der Ullsteins um
Glücklicherweise drehte sich der Wind. Berlins Regierender Bürgermeister Ernst Reuter war auf den Kurs der Ullsteins umgeschwenkt. Am 2. Juni 1952 erhielt Ullstein die Lizenz. Mit einem Kredit der Berliner Bank in Höhe von einer Million DM wurde tatsächlich der „Berliner Anzeiger“ mitsamt Redaktion gekauft und am 26. September 1952 die „Berliner Morgenpost“ präsentiert. Binnen weniger Wochen setzte sich das Blatt an die Spitze des hart umkämpften West-Berliner Zeitungsmarktes.
Ein stiller Beobachter der Situation war Axel Springer in Hamburg. Seit seinen Lehrjahren im Verlag des Vaters in Altona bewunderte er die Ullsteins. Ein Jahr nach Start seines eigenen Verlages in Hamburg nahm er 1947 Kontakt zu Heinz Ullstein auf. Die Beziehung intensivierte sich, als Axel Springer und die Ullsteins über einen gemeinsamen Erwerb der Tageszeitung „Die Welt“ nachdachten, die Springer letztlich 1953 allein erwarb. Als er begann, ein Berlin-Geschäft aufzubauen, bekam die Ullstein-Druckerei mit Springer einen wichtigen Kunden. Doch die Finanzlage blieb ein Problem der Ullsteins. Dieses wurde 1959 durch die Übernahme des Verlages durch Axel Springer gelöst, der im gleichen Jahr den Grundstein für seinen Verlagssitz in Berlin legte.
In seinem Dank für die Jubiläumsausgabe an Heinz Ullstein ein Jahr zuvor hatte sich Axel Springer nicht nur als Fan der „Berliner Morgenpost“ geoutet. Axel Springer wünschte dem Blatt, „diesem Freund des einfachen und großartigen Berliners“, weiterhin Glück. Der Wunsch ging in Erfüllung.
Lars-Broder Keil ist Leiter des Unternehmensarchivs der Axel Springer SE.