Berlin. Tausende Ausbildungsstellen sind noch unbesetzt, zugleich bleiben tausende Bewerber ohne Stelle. Was läuft schief am Ausbildungsmarkt?

Verkäuferinnen, Pfleger, Handwerkerinnen: Ohne sie läuft nichts. Spätestens seit der Corona-Pandemie ist deutlich geworden, dass viele Ausbildungsberufe die Grundlage für das Funktionieren der Gesellschaft sind, dass sie systemrelevant sind. Und gerade hier macht sich der Fachkräftemangel bemerkbar. Dennoch haben auch in diesem Ausbildungsjahr tausende Bewerberinnen und Bewerber keine Zusage für einen Ausbildungsplatz erhalten. Woran liegt das?

Im August 2023 standen in Berlin laut Deutschem Gewerkschaftsbund (DGB) rund 15.000 angebotenen Ausbildungsplätzen etwa 19.000 Bewerberinnen und Bewerber gegenüber. Einen Monat nach Ausbildungsstart suchen noch 6.546 Jugendliche eine Ausbildungsstelle, während die Unternehmen zugleich noch 5.823 Ausbildungsstellen zu besetzen haben, so die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit.

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Die Rechnung geht nicht auf

Eigentlich könnte die Rechnung aufgehen. Und das wäre wichtig, denn „die betriebliche Ausbildung spielt eine bedeutende Rolle für die Sicherung des künftigen Fachkräftenachwuchses“, so der Vizepräsident der Berliner Industrie- und Handelskammer (IHK) Stefan Spieker. „Die Kombination aus steigendem Fachkräftemangel und zunehmenden Vermittlungsproblemen in der Ausbildung, erschwert die Situation zunehmend.“

Topf und Deckel kommen also nicht richtig zusammen. Eine Erklärung: Viele Jugendliche haben nicht die nötigen Informationen erhalten, wissen so nichts von bestimmten Ausbildungsberufen oder kennen die Unternehmen ihrer Stadt nicht. Insbesondere die Pandemie mit ihren Lockdowns und Kontaktverboten hat hier eine tiefe Lücke gerissen, die erst jetzt langsam wieder geschlossen wird.

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Messen, Praktika: Betriebe und Schüler müssen in Kontakt kommen

Um Schüler für das eigene Unternehmen zu interessieren, geht das hessische Pharma- und Medizinbedarfs-Unternehmen B. Braun, das einen Produktionsstandort in Südneukölln unterhält, an Schulen, auf Ausbildungsmessen, lädt Schüler ins Unternehmen ein und bietet Schülerpraktika an. So konnten in diesem Jahr 13 Stellen besetzt werden, zwei blieben frei und ein Auszubildender sprang noch kurzfristig ab, berichtet die Ausbildungsspezialistin bei B. Braun, Ruth Kremer.

Dass Auszubildende noch kurz vor Ausbildungsstart abspringen, komme immer wieder vor. Oft wüssten die Jugendlichen direkt nach dem Schulabschluss noch nicht genau, in welche Richtung es gehen soll und zwischen Bewerbung und dem ersten Ausbildungstag vergehen oft Monate. Zeit, es sich noch einmal anders zu überlegen.

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Sechs Berufe können Auszubildende bei Braun in Berlin erlernen: Pharmakant, Chemielaborantin, Maschinen- und Anlagenführer, Mechatronikerin, Industriekaufmann oder Elektronikerin für Automatisierungstechnik. Die naturwissenschaftlichen Berufe seien beliebt, aber im kaufmännischen Bereich kämen weniger Bewerbungen, so Kremer.

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Instagram-Kampagnen und Speed-Dating

Auch der Biosupermarkt Bio Company konnte in Berlin nach eigenen Angaben „trotz kreativem Recruiting“ nicht alle Stellen besetzen. 22 Auszubildende fangen dort nun ihre Lehre an, acht Stellen bleiben leer. Dabei habe man sich sehr stark bei der Ansprache des Nachwuchses engagiert. „Neben den klassischen Wegen wie Ausbildungsmessen und -börsen, Schulveranstaltungen und sogar ‘Speed-Dating’ oder ‘Last Minute Börse’ bei der IHK“, sei man auch auf den digitalen Kanälen aktiv, heißt es in einer Mitteilung.

Der Bio-Supermarkt versuchte es mit Kampagnen auf Instagram oder Lernplattformen wie Studyflix und will künftig sogar die Kontaktaufnahme via Milchtüte anbieten: In Kürze werde auf der Milchpackung der Bio Company-Eigenmarke ein QR-Code aufgedruckt, den Interessierte mit dem Smartphone scannen und sich darüber direkt bewerben können.

Bahnlehre inklusive Gaming-Ausbildung

Manche Betriebe und Berufe sind für die Schulabgänger auf Jobsuche möglicherweise nicht attraktiv. Gerade der Einzelhandel und das Gastgewerbe – Branchen, die den Ruf harter Arbeitsbedingungen bei nicht so guter Bezahlung haben, finden besonders schwer Nachwuchs.

Auch in anderen Bereichen hängen sich manche Arbeitgeber daher ins Zeug und bieten alle möglichen Sonderkonditionen. Die Bahn geht soweit, ihren Auszubildenden ein „Esports-Stipendium“ anzubieten. Die besten Gamer unter den Berufsanfängern können neben ihrer Ausbildung so ihre Videospielfertigkeiten perfektionieren.

Tarif und Mitbestimmung für zufriedene Auszubildende

So extravagant muss es oft gar nicht sein. „Wir brauchen mehr Betriebe mit Tarifvertrag. Eine Tarifbindung wirkt sich nicht nur positiv auf die Vergütung aus, sondern bedeutet in der Regel auch mehr Urlaub sowie (bessere) Regelungen zu Sonderzahlungen wie Weihnachts- oder Urlaubsgeld. Der Ausbildungsreport unserer DGB-Jugend zeigt: Auszubildende mit Tarifvertrag sind deutlich zufriedener“, erklärt Nele Techen, stellvertretende Vorsitzende des DGB Berlin-Brandenburg. Bezahlung nach Tarif, Mitbestimmungsmöglichkeiten, ein Betriebsrat – das seien Kriterien, an denen sich die Unternehmen, die Auszubildende suchen, messen lassen müssten.

Nele Techen ist stellvertretende Vorsitzende des DGB Berlin-Brandenburg und spricht sich für die Ausbildungsumlage aus.
Nele Techen ist stellvertretende Vorsitzende des DGB Berlin-Brandenburg und spricht sich für die Ausbildungsumlage aus. © Christian von Polentz

Die Bewerber wiederum brächten immer häufiger keine ausreichenden Kompetenzen in den Kernfächern Deutsch, Mathe und Englisch mit, heißt es etwa bei B. Braun. Dennoch zähle das Gesamtbild: Wer ein großes Interesse am Betrieb, starken Willen mitbringe oder „schon als Kind mit Vater oder Mutter gern am Fahrrad geschraubt hat“, bekäme auch eine Chance, so die Ausbilderin des Unternehmens Kremer.

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Am Hauptstandort von B. Braun in Hessen bietet der Konzern darüber hinaus seit zwanzig Jahren das Programm „Perspektive plus“ an, das es Schulabgängern ermöglicht, sich ein Jahr lang gemeinsam mit einem Mentor, mit Praktika und Nachhilfe auf die Ausbildung vorzubereiten.

„Einstiegsqualifizierung“ als erster Schritt Richtung Ausbildung

In Berlin steht Jugendlichen, die eine Ausbildung machen wollen, aber nicht das beste Zeugnis haben, die Möglichkeit einer Einstiegsqualifizierung zur Verfügung. Betriebe können dieses von der Bundesarbeitsagentur geförderte sozialversicherungspflichtige Praktikum anbieten, um Jugendlichen Einblicke in den Beruf zu geben und selbst potenzielle Auszubildende kennenzulernen.

Mindestens sechs und höchstens zwölf Monate soll die Einstiegsqualifizierung dauern. Die Arbeitsagentur bezuschusst das Gehalt des Praktikanten oder der Praktikantin mit 262 Euro monatlich und gibt noch 131 Euro für die Sozialversicherung dazu. Die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) oder die Berliner Wasserbetriebe bieten beispielsweise eine Einstiegsqualifizierung an.

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Stefan Spieker von der IHK fordert, dass zur Verbesserung der Lage alle „Hürden entlang der Bildungskette“ adressiert werden müssten: „Schulqualität stärken, Berufsorientierung erfolgreich in die Fläche bringen, die aufsuchende Beratung der Jugendberufsagentur zielgerichtet optimieren und die Vermittlung intensivieren.“ Nicht zuletzt trage auch der Staat eine Verantwortung, zusätzliche Ausbildungsplätze zu schaffen, etwa im öffentlichen Dienst, der Erziehung und in der Pflege.

DGB: Ausbildungsumlage ist „solidarisches Finanzierungsmodell“

Anders als die IHK befürwortet Nele Techen vom DGB die geplante Ausbildungsumlage. Sollte das Ziel der 2000 zusätzlichen Lehrstellen bis 2025 nicht erreicht werden, müssen voraussichtlich alle Betriebe eine Abgabe zahlen. Firmen, die ausbilden, erhalten für jeden Azubi dann wieder Geld zurück. Die Umlage sei „ein bewährtes Instrument, die beispielsweise in der Bauwirtschaft seit Jahrzehnten für eine nachhaltige Ausbildungsquote sorgt“. Ziel sei „ein solidarisches Finanzierungsmodell, bei dem die Kosten der Ausbildung nicht allein durch die Ausbildungsbetriebe getragen werden müssen. Alle brauchen Fachkräfte – alle sollen sich beteiligen.“

Wie viele Ausbildungsstellen in diesem Ausbildungsjahr letztendlich unbesetzt bleiben und wie viele Bewerberinnen und Bewerber leer ausgehen, wird sich erst im November zeigen, wenn die Bundesarbeitsagentur ihre abschließende Bilanz zieht. Bis Ende Oktober gibt es gute Chancen, über eine Nachvermittlung noch einen Platz zu finden.